Nicht nur für deutsche Barockdichter, sondern auch für vietname-sische Dichter, die gegen Ende der feudalistischen Ära in Vietnam lebten, war Lyrik wie eine Leiter zum Himmel, die ihnen
Trang 1NATIONALUNIVERSITÄT HANOI HOCHSCHULE FÜR FREMDSPRACHEN ABTEILUNG FÜR POSTGRADUALE STUDIEN
Hanoi – 2020
Trang 2NATIONALUNIVERSITÄT HANOI HOCHSCHULE FÜR FREMDSPRACHEN ABTEILUNG FÜR POSTGRADUALE STUDIEN
Unterschrift: _
Hanoi – 20 20
Trang 3Eidesstattliche Erklärung
Hiermit erkläre ich, dass ich diese Masterarbeit selbstständig verfasst und keine deren als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt habe sowie die Stellen der Arbeit, die in anderen Werken dem Wortlaut oder dem Sinn nach entnommen sind, durch Angaben der Quellen sichtbar gemacht wurden Die Arbeit wurde auch bisher nie in gleicher oder vergleichbarer Form veröffentlicht
an-
Ort, Datum
_ Unterschrift
Trang 4Danksagung
Mein größter Dank gilt meiner Betreuerin, Frau Dr Dörte Lütvogt, für ihre schaft und unermüdliche Geduld bei der Betreuung und Unterstützung bei dem Erstellen dieser Masterarbeit, auch wenn ihre Amtszeit in Vietnam schon abgelaufen ist Des Weiteren möchte ich mich bei allen Kolleginnen und Kollegen der Abteilung für Deutsche Sprache, insbesondere Herrn Dr Lê Hoài Ân, für methodische Hinweise und wertvolle Vorschläge zur Durchführung und Verbesserung des Untersuchungs-verfahrens und nicht zuletzt bei meiner Cousine in Deutschland für ihre Fremdkor-rektur und sprachliche Unterstützung bedanken, ohne deren Hilfe und aufmunternde Worte diese Arbeit nicht hätte geschafft werden können
Trang 5Bereit-Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung 1
1.1 Themenwahl 1
1.2 Forschungsfragen und Zielsetzung 2
1.3 Forschungsmethoden und Aufbau der Arbeit 2
2 Die Epoche des deutschen Barock und das deutsche Sonett 4
2.1 Politische und sozialgeschichtliche Grundlagen des deutschen Barock 4
2.2 Merkmale der deutschen Barockliteratur 7
2.2.1 Wiederspiegelung des antithetischen Lebensgefühl 7
2.2.2 Politisch-repräsentative Funktion 8
2.2.3 Reformbestrebungen in der Sprachwissenschaft und der Poetik 9
2.3 Gedichte in der Barockzeit 11
2.3.1 Themen 11
2.3.2 Sprachstil 12
2.3.3 Das deutsche Sonett 13
3 Die Dynastien in Vietnam und das vietnamesische 7-8-Gedicht 15
3.1 Politische und sozialgeschichtliche Grundlagen der vietnamesischen Dynastien vom 10 bis zur ersten Hälfte des 19 Jahrhunderts 15
3.2 Die Literatur der vietnamesischen Dynastien vom 10 bis zur ersten Hälfte des 19 Jahrhunderts im Überblick 16
3.3 Nôm-Gedichte vom 16 bis zur ersten Hälfte des 19 Jahrhunderts 19
3.3.1 Themen 19
3.3.2 Sprachstil 20
3.2.3 Das vietnamesische 7-8-Gedicht 23
3.4 Vergleich der deutschen Barockliteratur mit der vietnamesischen Literatur vom 16 Jahrhundert bis zur ersten Hälfte des 19 Jahrhunderts 26
4 Analyse und Interpretation der ausgewählten Gedichte 30
4.1 Textauswahl und Vorgehensweise 30
4.2 Analyse und Interpretation der deutschen Sonette 32
Trang 64.2.1 Es ist alles eitel (Andreas Gryphius – 1637) 32
4.2.2 An sich (Paul Fleming – 1641) 38
4.2.3 Vergänglichkeit der Schönheit (Christian Hoffmann v Hoffmannswaldau – 1695) 42
4.2.4 Francisci Petrarchae (Martin Opitz –1624) 47
4.3 Analyse und Interpretation der 7-8-Gedichte 52
4.3.1 Nhàn (Nguyễn Bỉnh Khiêm – 16 Jhd) 53
4.3.2 Lấy chung chồng (Hồ Xuân Hương – 18 Jhd) 58
4.3.3 Qua đèo Ngang (Bà Huyện Thanh Quan – 19 Jhd) 63
4.3.4 Thu điếu (Nguyễn Khuyến – 19 Jhd) 69
4.4 Zusammenspiel zwischen Form und Inhalt der beiden Gedichtformen im Vergleich 74
4.4.1 Die äußere Struktur 74
4.4.2 Prosodie 78
4.4.3 Bild- und Wortebene 82
4.4.4 Syntax 85
5 Schlussfolgerung und Ausblick 92 Literaturverzeichnis
Trang 7Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Die grundlegenden formalen Merkmale des deutschen Sonetts am
Beispiel von „Es ist alles eitel“ (Andreas Gryphius) 15
Tabelle 2: Themen und Vertreter der 7-8-Gedichten 20
Tabelle 3: Die Töne im vietnamesischen Sprachsystem 24
Tabelle 4: Das Schema der Tonhöhe im 7-8-Gedicht 25
Tabelle 5: Die grundlegenden formalen Merkmale des 7-8-Gedichts am Beispiel von Qua Đèo Ngang (Bà Huyện Thanh Quan) 26
Tabelle 6: Textauswahl 31
Tabelle 7: Ebenen der Antithetik im Gedicht Francisci Petrarchae (Martin Opitz) 52 Tabelle 8: Reduplikationen und erweckte Sinneswahrnehmungen im Gedicht Thu điếu (Nguyễn Khuyến) 73
Tabelle 9: Die inhaltliche Struktur der untersuchten Sonette im Überblick 76
Tabelle 10: Die inhaltliche Struktur der untersuchten 7-8-Gedichte im Überblick 77 Tabelle 11: Die prosodischen Merkmale in den untersuchten Gedichten im Vergleich 78
Tabelle 12: Reime und Abweichungen in den 7-8-Gedichten 80
Tabelle 13: Die Pausenstruktur in den 7-8-Gedichten 81
Tabelle 14: Überblick über die phonologischen Stilmittel in den Gedichten und ihre Wirkungen 81
Tabelle 15: Das Vokabular in den Sonetten im Überblick 83
Tabelle 16: Das Vokabular in den 7-8-Gedichten im Überblick 84
Tabelle 17: Die syntaktischen Stilmittel in den Sonetten im Überblick 85
Tabelle 18: Die Antithesen und Parallelismen mit ihren Wirkungen in den Sonetten 89
Tabelle 19: Die syntaktischen Stilmittel in den 7-8-Gedichten im Überblick 90
Tabelle 20: Die Antithesen und Parallelismen mit ihren Wirkungen in den 7-8-Gedichten 92
Trang 81 Einleitung
1.1 Themenwahl
„Wer Sprache liebt, ist immer bereit, sich durch die Steigerung sprachlicher Ästhetik in lyrischen Texten verzaubern zu lassen“, so lässt sich die Schönheit dieser literarischen Gattung beschreiben Nicht nur für deutsche Barockdichter, sondern auch für vietname-sische Dichter, die gegen Ende der feudalistischen Ära in Vietnam lebten, war Lyrik wie eine Leiter zum Himmel, die ihnen zur Flucht vor der melancholischen Realität verhalf Warum dominierten in diesen turbulenten Zeiten das Sonett in Deutschland, und das 7-8-Gedicht in Vietnam? Waren sie geradezu die perfekte Form für die dama-ligen Dichter? Wie wurden die Gefühle und Weltanschauungen der Autoren über die Form und die Sprache ihrer lyrischen Texte transportiert? Solche Überlegungen sind Impulse für meine Forschung über das deutsche Sonett und das vietnamesische 7-8-Gedicht
Im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit steht der kontrastive Vergleich zwischen dem deutschen Sonett und dem vietnamesischen 7-8-Gedicht Da die Barockepoche und das Zeitalter der vietnamesischen Dynastien lange Zeitspannen umfassen und die Entste-hungszeiten von Texten beider Textsorten auch um hunderte von Jahren auseinander-liegen können, bedarf es einer exakten zeitlichen Abgrenzung für die Untersuchung Somit wird das deutsche Sonett in der Blütezeit, d h vom Ende des 16 Jahrhunderts bis zum späten 18 Jahrhundert behandelt Hingegen wird das vietnamesische 7-8-Ge-dicht vom 16 Jahrhundert bis zur ersten Hälfte des 19 Jahrhunderts untersucht, da diese Gedichtform um diese Zeit voll entwickelt war und sich als eine eigenständige Texts-orte behauptete Da das traditionelle deutsche Sonett und das vietnamesische 7-8-Ge-dicht einen festen Aufbau und demnach auch ganz eindeutige Merkmale haben, die sich benennen lassen können, sind sie prädestiniert für einen kontrastiven Vergleich Dafür spricht auch, dass die meisten Dichter dieser Zeit diese überbeanspruchte Form bewusst einhielten Da bisher noch niemand solch einen Vergleich wagte, ist dieses Thema zwar neu und herausfordernd, aber für mich besonders interessant
Trang 91.2 Forschungsfragen und Zielsetzung
Die Arbeit geht der folgenden Forschungsfrage nach: Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede haben die beiden Gedichtformen in Bezug auf formale Merkmale und im Hinblick auf das Zusammenspiel zwischen Form und Inhalt zum Ausdruck epochentypischer Denkweisen? Dabei ergeben sich verschiedene Teilfragen: Erstens
wird die Frage nach den Gemeinsamkeiten und Unterschieden der beiden Textsorten in ihrer strengen Form aufgegriffen Zweitens ist herauszufinden, welche Inhalte die Autoren in ihren lyrischen Werken zum Ausdruck bringen und ob diese Inhalte epo-chentypisch sind Drittens stellt sich die Frage nach dem Zusammenspiel zwischen Form und Inhalt, insbesondere im Hinblick auf die Epochenideologien Auf dieser Un-tersuchungsperspektive liegt der Schwerpunkt meiner Arbeit Anhand dessen kann man schlussfolgern, warum mehrere Dichter zu diesen Textsorten griffen und ob sich spezi-fische, epochentypische Arten des Denkens über die strenge Form ausdrücken
Die Beantwortung der gestellten Fragen ist das oberste Ziel der Untersuchung Um sen Endzweck zu erreichen, soll zunächst ein genaues Verständnis der untersuchten Epochen erworben werden Epochenmerkmale und literarische Besonderheiten sollen möglichst systematisch und kontrastiv erfasst werden Zweitens dient die Analyse be-kannter Gedichte dem Zweck, die formalen Merkmale der beiden Textsorten herauszu-arbeiten und miteinander zu vergleichen Zuletzt steht die Untersuchung des Zusam-menspiels von Form und Inhalt zur Überprüfung der These über die in den Texten ver-borgenen Epochenideologien im Fokus
die-1.3 Forschungsmethoden und Aufbau der Arbeit
Der theoretische Teil widmet sich den Erläuterungen zu den allgemeinen Epochen- und Textsortenmerkmalen, die auf verschiedenen vorhandenen Theorien beruhen Ziel ist
es, die sozial-geschichtlichen Hintergründe kontrastiv darzustellen, ein des und übergreifendes Verständnis der Epochen und des jeweiligen Zeitgeistes zu ver-mitteln, ferner die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Literatur bzw in der Lyrik der untersuchten Zeitabschnitte in beiden Ländern herauszufinden Im Hinblick auf die untersuchten Textsorten werden die formalen Eigenschaften auch zusammengefasst und miteinander kontrastiv verglichen
Trang 10weiterreichen-Analysieren, Interpretieren und Vergleichen als Methoden sind für die praktische tersuchung geeignet In der Textanalyse werden zunächst Deutungshypothesen darge-stellt, gefolgt von einer gründlichen Auseinandersetzung mit der inhaltlichen Struktur sowie der sprachlich-strukturellen Seite der Texte Dabei werden die folgenden Aspekte untersucht und verglichen: Die äußere Struktur, die Prosodie, die Syntax und die Sem-antik Der Schwerpunkt des Interesses liegt jedoch nicht in dem Vergleich der äußeren Form bei der Textsorten, sondern in der Untersuchung der Beziehung zwischen Form und Inhalt Aus den erworbenen Kenntnissen über die Epochen sowie den detaillierten Analysen und Interpretationen der Texte soll abgeleitet werden, inwiefern die strenge Form zum Ausdruck epochentypischen Gedankengutes dient
Un-Einen weiteren Aspekt stellt die Textauswahl dar Wie oben erwähnt umfassen die rockepoche und das Zeitalter der Dynastien in Vietnam lange Zeitspannen Während dieser Zeit sind viele Sonette und 7-8-Gedichte, die man in die Überlegungen einbezie-hen kann, entstanden Deshalb bedarf der Vorgang der Textauswahl bestimmter Krite-rien, um möglichst repräsentative Texte bestimmen zu können Hinsichtlich der zeitli-chen Abgrenzung müssten deutsche Sonette vom Ende des 16 Jahrhunderts bis in das späte 18 Jahrhundert und vietnamesische 7-8-Gedichte vom 16 Jahrhundert bis in das späte 19 Jahrhundert in Betracht genommen werden Darüber hinaus sind besonders die bekanntesten Autoren, deren Werke bis ins heutige Bildungswesen hineinwirken,
Ba-zu benennen Die aus diesen Gründen ausgewählten deutschen Barockdichter sind Martin Opitz (1597 – 1639), Paul Fleming (1609 – 1640), Andreas Gryphius (1616 – 1664) und Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616 – 1679) Die ausgewählten 7-8-Gedichte stammen von Nguyễn Bỉnh Khiêm (1491 – 1585), Hồ Xuân Hương (1772 – 1822), Bà Huyện Thanh Quan (1805 – 1848) und Nguyễn Khuyến (1835 – 1909) Der langlebige Zeitgeist lässt sich in ihren Werken ohne Zweifel am deutlichs-ten und am besten veranschaulichen Da ich mehr Wert auf eine gründliche Analyse und Interpretation der Texte legen möchte, werden im Rahmen dieser Arbeit acht Ge-dichte ausführlich analysiert und interpretiert – je Gedichtform vier Texte Die genaue Vorgehensweise wird in Abschnitt 4 unmittelbar vor der Analyse und Interpretation der Texte erörtert
Trang 112 Die Epoche des deutschen Barock und das deutsche Sonett
2.1 Politische und sozialgeschichtliche Grundlagen des deutschen Barock
In diesem Abschnitt wird keine detailreiche Darstellung der Barockzeit angestrebt Vielmehr soll versucht werden, einen kurzen, aber möglichst überschaubaren Überblick über alle unabdingbaren politischen und sozialen Voraussetzungen für die Ausbreitung des deutschen Sonetts zu vermitteln Die das gesamte 17 Jahrhundert umfassende Stilepoche des Barock, der sich in der Literatur, in der Architektur, in der Malerei und auch in der Musik entwickelte, lässt sich in drei Abschnitte unterteilen: Frühbarock (1600 – 1650), Hochbarock (1650 – 1720) und Spätbarock oder Rokoko (1720 – 1750) (vgl Balzer/ Mertens 1990: 164) Es herrscht bisher nach zahlreichen Definitionsver-
suchen kein Konsens über den Epochenbegriff Das deutsche Adjektiv barock wurde
aus dem Französischen baroque (schiefrunde, unregelmäßige Perlen) entlehnt und seit
dem späten 19 Jahrhundert vor allem terminologisch mit Bezug auf den Stil der Epoche des Barock verwendet Das französische Adjektiv geht wiederum auf das portugiesi-
sche Substantiv barocco (Perle mit ungleichmäßiger Oberfläche, schiefrunder stein) zurück, nahm aber – offenbar aufgund des Gleichklangs – auch Bedeutungsnu-
Edel-ancen des lateinischen Adjektivs baroco an1, das einen bestimmten Syllogismus in der formalen Logik benennt und als Inbegriff scholastischer Denkweise verspottet worden sein mag (siehe Beispiel):
Prämisse 1: Alle Quadrate sind Rechtecke
Prämisse 2: Einige Vielecke sind nicht Rechtecke
Konklusion: Einige Vielecke sind nicht Quadrate
Um 1700 entwickelte das französische baroque den metaphorischen Gebrauch
verschroben, sonderbar, bizarr, überladen, der um 1750, zur Zeit der Übernahme ins
Deutsche oft als tadelnde Kennzeichnung eines veralteten Geschmacks und überholter, als schwülstig empfundener künstlerischer Gestaltungsmittel, namentlich in
1 vgl Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache (DWDS) (2019): Barock, [online]
https://www.dwds.de/wb/Barock [19.12.2019]
Trang 12Architektur, Malerei und Musik, verwendet wurde2 Diese negativen Wertungen bezogen sich zunächst vor allem auf die bildende Kunst Sowohl das Bild einer
unregelmäßigen Perle als auch der Modus baroco des Syllogismus deuten auf
Gegen-sätzlichkeiten hin und verweisen auf die antithetischen Merkmale des vom Krieg prägten Zeitalters Der Ausgangspunkt aller kriegerischen Auseinandersetzungen greift bis in die Reformationszeit zurück, als die religiöse Erneuerungsbewegung um die Mitte des 16 Jahrhunderts zu einer konfessionellen Spaltung des westlichen Christentums führte Die daraus folgenden Unruhen und Konfessionskriege zwischen protestanti-schen und katholischen Fürsten mündeten 1618 in den Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges, der in manchen Gegenden 80 Prozent der Bevölkerung das Leben kostete und weite Teile des damaligen Deutschlands zerstörte Nach dem Krieg wurde laut dem Westfälischen Frieden 1648 die Selbstständigkeit der rund 300 kleinen Landesherr-schaften bestätigt, deren Fürsten in der Nachahmung des Sonnenkönigs Ludwigs XIV den territorialen Absolutismus praktizierten Die Konfession der Untertanen einzelner
ge-Staaten wurde vom Regenten nach der simplen Formel „Cuius regio, eius religio“
(wessen Herrschaft, dessen Glaube) bestimmt (vgl Borries 2006: 345f) Während ser Zeit stellten der König und die katholische Kirche ihre Machtfülle zur Schau, wäh-rend die Fürsten ein äußerst verschwenderisches Leben führten Könige und Fürsten herrschten nicht nur mit uneingeschränkter Macht über ihre gehorsamen Untertanen, sondern beuteten sie skrupellos zugunsten ihrer prunkvollen aristokratischen Repräsen-
die-tationsweisen aus: „Schlösser wurden eigens errichtet, Parkanlagen neu gestaltet und
riesige Feuerwerke abgebrannt Alle Künste – Malerei und Plastik, Musik und Dichtung – wirkten zusammen, bis schließlich in strahlender Gloriole der Herrscher selbst, des- sen Hochzeit oder Geburtstag gefeiert wurde, als Höhepunkt erschien“ (Borries 2006:
348) Nicht nur Kriege, auch das harte Arbeitsleben, Missernten und Seuchen bescherten vielen Zeitgenossen des 17 Jahrhunderts ein frühes Ende Pracht und Absolutismus auf der einen Seite korrespondierten mit Erfahrungen von kriegerischen Auseinanderset-zungen, Elend und Not der Menschen auf der anderen Seite
2 vgl Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache (DWDS) (2019): Barock, [online]
https://www.dwds.de/wb/Barock [19.12.2019]
Trang 13Ferner gibt es noch weitere Beispiele für tiefe Widersprüche der Barockzeit: So stand der tiefen christlichen Religiosität ein großes Interesse an der Kultur der Antike, die aus christlicher Sicht in vielerlei Hinsicht „sündhaft“ und „unmoralisch“ war, gegenüber Die Antike inspirierte viele Künstler, mythologische Erzählungen darzustellen, wie bei-spielweise den Maler Peter Paul Rubens, dessen untenstehendes Bild eine Sage aus der griechischen Mythologie darstellt
„Der Heros Hippolytus weist darin die Liebe seiner Stiefmutter zurück, die sich daraufhin das Leben nimmt Zuvor hat sie behauptet, Hippolytus habe sie begehrt Der Meeresgott Poseidon lässt ihn daraufhin von einem seiner Seeungeheuer angreifen Dabei verunglückt Hippolytus Pferde- wagen und er kommt um“ 3
Darüber hinaus stand einer starken Irrationalität, die sich vor allem in den folgungen äußerte, welche zu Beginn des 17 Jahrhunderts noch gang und gäbe waren, eine stürmische Entwicklung der Naturwissenschaften gegenüber, die durch den Pro-testantismus begünstigt wurde Im Gegensatz zur katholischen Kirche mit ihrer absolu-ten Macht ließ die Reformation Freiräume zum Denken, schuf somit ein freieres Klima für Forschung Dabei stehen zunächst Galileo Galilei (1564 – 1642), Johannes Kepler (1571 – 1630), Isaac Newton (1642 – 1727) und Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 –1716) an der Wiege der modernen Wissenschaften4 Kurzum: die antithetische Grund-stimmung liegt dieser Zeit in einem einschneidenden Maße zugrunde (vgl Neuhaus 2017: 135)
Hexenver-3 Cords, Suzanne (2018): Kraftvolle Männer, üppige Frauen: der Barockmaler Peter Paul Rubens, [online]
https://www.dw.com/de/kraftvolle-männer-üppige-frauen-der-barockmaler-peter-paul-rubens/a-42485186
[19.12.2019]
4 vgl Frieling, Christian/ Kistner, Hans-Jürgen/ Scheidemann, Frank/ v Horadam, Manfred (2001): Projekt tenwende“: Die Epoche des Barock [online] https://www.vhs-kamen-boenen.de/fileadmin/datensammlung/doku- mente/barockschrift.pdf [19.12.2019]
Trang 14„Zei-2.2 Merkmale der deutschen Barockliteratur
2.2.1 Wiederspiegelung des antithetischen Lebensgefühl
Die antithetische Lebenseinstellung und die tiefe Religiosität der barocken Menschen wurden vielfach in der Literatur und Malerei abgehandelt (vgl Borries 2006: 356) Da das menschliche Leben an einem dünnen Faden hing, hieß in dieser zutiefst unsicheren
Zeit ein weitverbreiteter Sinnspruch: „memento mori“ (denke daran, dass du sterben musst) Weit verbreitet war auch das daraus abgeleitete Motiv der „vanitas“ (alles ist
vergänglich), d.h die Menschen waren sich der Zerbrechlichkeit der Welt bewusst und davon überzeugt, dass all ihr Leid und Unglück die gottgewollte Weltordnung sind:
„die Welt der Erscheinung existiert nicht um ihrer selbst willen, sondern dient dem Menschen, um in ihr Gottes Willen und die Harmonie der göttlichen Schöpfung zu er- kennen“ (Balzer/ Mertens 1990: 165) Den Menschen den gottgewollten Aufbau von
Staat und Gesellschaft bewusst zu machen, war Auftrag der Literatur Und diese
Auf-gabe hat die dramatische Dichtung besonders gut erfüllt Die Veranstaltung von terinszenierungen und Festen diente nicht nur der Veranschaulichung der höfischen Machtvollkommenheit, sondern auch dem Ausdruck der feststehenden Weltordnung, in der Gott als Regisseur und Autor zugleich der einzige Zuschauer ist Die Menschen wurden als Marionetten eben jenes Spielmachers interpretiert (vgl Balzer/ Mertens
Thea-1990: 166)
„Kaum eine Epoche hat das Theater so tief verstanden wie der Barock, dem das Leben selbst eitler Schein, die Welt nur Theater war Die Bühne als Mikrokosmos, als verkleiner- tes Abbild der Welt, inszeniert mit dem verschwenderischen Glanz der absolutistischen Residenzen, war sicherlich Teil der höfischen Festkultur, zugleich aber Sinnbild für die vanitas des irdischen Seins“ (Borries 2006: 386)
Eine kontrastrierende Antwort auf den Vergänglichkeitsgedanken hieß „carpe diem“
(nutze den Tag) Die Formel „carpe diem“ stammt von dem römischen Dichter Horaz, der sich selbst als Anhänger Epikurs bzw der epikureischen Philosophie bezeichnete Die Epikureer neigten zur Lebenslust und Sinnesfreude und sahen in der Lust das
höchste Lebensziel: „Diese wird aber nicht nur durch Sinnesgenuss, sondern auch
Trang 15durch Gemütsruhe und philosophische Reflexionen erreicht Auch dadurch, dass mieden wird, was auf Dauer mehr Unlust und Schmerz als Lust hervorruft“ (vgl.5) Dies steht im scharfen Gegensatz zu der Todessehnsucht bzw dem fanatischen Glauben an das Jenseits, wo die Menschen erlöst werden sollten Als eine weitere philosophische Strömung ist der antike Stoizismus zu erwähnen, der in der Barockzeit als „Neustoizis-mus“ eine wichtige Rolle spielte Justus Lipsius (1547 – 1606) als Vater des Neustoi-zismus verzichtet auf die Kosmologie und Metaphysik der antiken Autoren und setzt auf eine autonome und effiziente Lebensbewältigung, eine Unabhängigkeit von den ei-genen Affekten Während es den Epikureern um Glück/Lebensfreude ging, ging es den Stoikern um eine innere Ruhe und Unabhängigkeit, die durch Selbstbeherrschung zu erlangen ist (vgl Niefanger 2006: 44)
ver-2.2.2 Politisch-repräsentative Funktion
Die Barockliteratur wollte im Grunde belehren: „Dichtung hat [ ] einen
„öffentli-chen“ Charakter Sie soll lehrhaften Zwecken dienen und zu einem tugendhaften Leben anleiten“ (Meid 2000: 8) In der Tat steht sie hauptsächlich im Dienste der Obrigkeit
und wird der politisch-repräsentativen Funktion zugerechnet Dies lässt sich auf schiedene Weise realisieren, z B wurden alle Gelegenheiten zum Anlass genommen,
ver-um zweckgerichtete Gedichte vorzutragen, welche das Ansehen der noch lebenden würdigten heben sollten Gelehrte lobten sich gegenseitig oder sie lobten die Tugenden der Fürsten und Mäzene (vgl Balzer/Mertens 1990: 174f)
Ge-Darüber hinaus wurde die göttliche Weltordnung mehrfach in Gedichten und Liedern geschildert und Gott ließ sich als Ansporn und Trost in harten Zeiten preisen Dichtung sollte auf ihre Weise die Menschen einnehmen und überreden sowie die theologischen
Wahrheiten verbreiten Eine typische Textsorte war das Emblem – eine aus Überschrift,
Bild und Unterschrift bestehende sinnbildliche Darstellung, aus der ein Lehrsatz zu schlüsseln war (vgl Neuhaus 2017: 137) Ein charakteristisches Beispiel ist das unten
ent-abgebildete Emblem, dessen Botschaft sich folgendermaßen paraphrasieren lässt:
„Bos-heit und Gier schadet: ein subtileres und vor allem weniger gewaltsames Vorgehen
5 vgl Möller, Peter: Stoizismus und Epikureismus, [online] http://www.philolex.de/stoiepik.htm [19.12.2019]
Trang 16erbrächte eine höhere Effizienz Gewalt weist auf den zurück, der sie ausübt“
(Niefan-ger 2006: 80)
2.2.3 Reformbestrebungen in der Sprachwissenschaft und der Poetik
Als sich Martin Luthers Bibelübersetzung mithilfe des Buchdrucks über den ganzen deutschen Sprachraum stark verbreitete, öffnete sich die Tür in die deutsche Literatur:
„ihm ist es zu verdanken, dass die deutsche Sprache beginnt, literaturfähig zu werden“
(Neuhaus 2017: 134f) Kennzeichnend für den allerersten Literaturbetrieb war die
Gründung zahlreicher Sprachgesellschaften mit der Aufgabe, die reine alte Sprache zu bewahren – also den üblichen Kauderwelsch aus Deutsch, Französisch, Italienisch und Spanisch – zu reinigen Dem 1617 in Weimar gegründetet Palmenorden wurde diese Ehre zugesprochen Neben großen Bemühungen in sprachwissenschaftlichen Tätigkei-ten haben die Reformbestrebungen in der Poetik einen durchschlagenden Erfolg her-
vorgebracht, als das 1624 von Martin Opitz (1497 – 1639) veröffentlichte „Buch von
der deutschen Poeterey“ mit seinen aufgestellten Regeln zum Lernen der Dichtkunst
die poetischen Probleme vieler zeitgenössischer Akademiker gelöst hat Seiner Theorie zufolge sollten ein gepflegtes, anschauliches Hochdeutsch, die natürliche Wortbeto-nung, die Reinheit des Reims und ein alternierender Rhythmus erzielt werden (vgl Baumann/ Oberle 1996: 54):
„Der Versakzent soll also mit dem natürlichen Wortakzent im Deutschen, dem Wechsel von betonter und unbetonter Silbe übereinstimmen [ ] die klassischen Versmaße des Jambus und des Trochäus seien im Deutschen durch Hebung und Senkung zu bilden, nicht aber wie
Trang 17in der Antike durch den Wechsel von langen und kurzen Silben [ ] Als Verszeile gierte er den „Alexandriner“, einen sechshebigen jambischen Vers mit einer Zäsur in der Mitte“ (Borries 2006: 353)
propa-Darüber hinaus stellte Opitz, meist durch Übersetzungen oder mit seinen eigenen dichten, Vorbilder zur Verfügung, die für die Erneuerung und Entwicklung der jungen deutschen Literatur prägend waren (vgl Baumann/ Oberle 1996: 54) Die Reformbe-strebungen in der Poetik im Allgemeinen und die von Opitz erarbeiteten Regeln im
Ge-Besonderen haben die Erlernbarkeit der Dichtkunst ermöglicht: „Autoren schreiben
nach Regeln und verstehen ihren Beruf als Handwerk“ (Neuhaus 2017: 137)
Aller-dings funktionierte der literarische Markt wie eine geschlossene Gesellschaft, wo lehrte schreiben und Gelehrte die Werke lesen, d h Erzeuger und Verbraucher waren praktisch identisch An diesem begrenzten literarischen Kreis nahmen vor allem Fürs-ten, Teile des Adels, Patrizier und einige Gelehrte teil Die Bevölkerung hat selber keine Literatur verfasst und die volkstümliche Dichtung (z B Bauernlieder) wurde vom Hof her oder seitens der Gelehrten nicht ernst genommen (vgl Balzer/ Mertens 1990: 166f)
Ge-Zu den wichtigsten Autoren der Barockzeit zählten der Schriftsteller Hans Jacob
Chris-toph Grimmelshausen (1622 – 1676) mit seinem bekannten Roman „Simplicissismus
Teutsch“, die Dramatiker Daniel Casper von Lohenstein (1635 – 1683) und Christian
Weise (1642 – 1708), die Lyriker Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616 – 1679), Paul Gerhardt (1607 – 1676) und Andreas Gryphius (1616 – 1664)
Insbesondere Gryphius, dessen Sonette als herausragende Leistung der Epoche hen wurden, gilt aus heutiger Sicht als Hauptvertreter der Barockliteratur (vgl Neuhaus 2017: 135f) Gryphius musste mit fünf Jahren den Herztod seines Vaters mitansehen und verlor einige Jahre später auch seine Mutter und Geschwister Sein Leben wurde stark von dem grausamen Dreißigjährigen Krieg geprägt, sodass er seine leidvollen Er-fahrungen mit dem Krieg in seine Dichtung einbrachte und im Wesentlichen über die Vanitas schrieb Er ist für mehrere Bände bemerkenswerter Sonette und Oden bekannt,
angese-vor allem Es ist alles eitel, Tränen des Vaterlandes (vgl Balzer/Mertens 1990: 183)
Trang 182.3 Gedichte in der Barockzeit
2.3.1 Themen
Lyrik im Barock ist nicht der lyrische Ausdruck subjektiven Gefühlserlebens des mittelbaren, ganz eigentümlichen Weltempfindens eines dichterischen Genies, sondern versucht mittels bewusst gesetzter Bilder allgemeingültige rationale Aussagen vorge-gebener, vorgeformter Inhalte zu formulieren und diese so schlüssig und eindringlich wie möglich vorzubringen (vgl Borries 2006: 358) Die christliche Weltanschauung, die humanistische Bildung sowie die adlig-höfische Kultur bilden die unabdingbaren Bezugsfelder aller Autoren Die Themen umkreisen zwar tiefste Fragen menschlichen Lebens wie Liebesfreude, Lebenslust, Zeit, Ewigkeit und Vergänglichkeit; die Schre-cken des Krieges, die Trauer und der Tod werden in der Dichtung aber zumeist gemäß
un-einer bestimmten Weltsicht dargestellt: „Die Welt, einmal geschaffen, ist statisch Es
gibt also ‚richtig‘ und ‚falsch‘, gemessen an der absoluten Norm des göttlichen lens“ (Balzer/ Mertens 1990: 170ff) Daraus entstehen zwei der epochentypisch gegen-
Wil-sätzlichen Grundzüge mit deren entsprechenden Haltungen: Entweder die Flucht in den trotzigen Lebensgenuss oder die Hoffnung auf das rettende Jenseits, in dem der Mensch Gottes Ewigkeit erfahren darf (vgl Balzer/Mertens 1990: 165)
Darüber hinaus wurde der italienische Dichter Petrarca zum klassischen Muster ben, sodass zahlreiche lyrische Werke unter seinem Einfluss produziert worden sind Auf viele literarische Nachahmer ist die Darstellung der bittersüßen Liebe gestoßen und die Vorstellung von der Liebe als Kampf, Feuer, Leben und Tod Dass der „Petrarkis-mus“ zu einer wichtigen Stilrichtung vornehmlich der Lyrik des 15 – 17 Jahrhunderts
erho-geworden ist, ist auf die gesellschaftliche Natur zurückzuführen, welche „Liebe als
Ge-sprächsthema der höfischen Gesellschaft, als Thema höfisch-unterhaltender Dichtung und Musik“ (Meid 2000: 29) auffasste Das Thema der bittersüßen Liebe wurde in ver-
schiedenen thematischen Ausprägungen, beispielweise: Tod und Leben, Trennung, Spannung, grausame Unnahbarkeit, Schönheit der Frauen, Lust und Leiden in der Liebe, variiert (vgl Borries 2006: 355) Das petrarkistische System variierte in Deutsch-land von weltlichem Petrarkismus (bei Fleming) über geistlichen Petrarkismus (bei Spee) bis hin zu erotischem Petrarkismus (bei Hoffmannswaldau) (vgl Niefanger 2006: 111)
Trang 192.3.2 Sprachstil
Der im 19 und frühen 20 Jahrhundert als „schwülstig, pathetisch, rhetorisch“ tete Epochenstil zeigt sich eindeutig in der Lyrik Somit lässt sich ein Barockgedicht mit einer herausragenden Spracharchitektur vergleichen, welche sich durch „die außer-
bewer-ordentliche bilderreiche Sprache der Barockdichtung, die mit lautmalerischen Mitteln und immer neuen Vergleichen versucht, ihre Gegenstände angemessen zu beschreiben“
(Balzer/ Mertens 1990: 164) auszeichnet Weitere diverse Stilmittel, allen voran phern, Allegorien, Emblematik, Antithesen, Parallelismen, Correlativiti, Oxymora spie-len für die bildliche Beschaffenheit, die sich in zwei Ebenen gliedert, eine wichtige Rolle (vgl Balzer/ Mertens 1990: 170)
Meta-Auf der ersten Ebene bzw der dekorativen Bildlichkeit dominieren „Blumen, kostbare
Stoffe und Edelsteine, süße Speisen und Getränke, Duftstoffe und sche Tiere als die wichtigsten Vergleichsbereiche” (Meid 2000: 43) In der petrarkisti-
dekorativ-emblemati-schen Lyrik enthält „das Bild der Frau festumrissene Züge, Gegenstände und Orte, die
mit der geliebten Frau verbunden sind“ (Meid 2000: 27) Naturelemente werden
prak-tisch zur Bezeichnung der Frauenschönheit verwendet So beschreiben „Korallen die
Röte der Lippen, Edelsteine oder Quellen die Augen, der weiße Schnee die Haut, Bäche die Tränen oder Marmor und andere Steine die Kälte der Geliebten“ (Niefanger 2006:
109) Außerdem gilt die unschuldige reine Natur als Sinnbild und wird zum Material für die immer wieder unter christlicher Norm vorzunehmende Weltdeutung
Mit der ausgeprägten lautmalerischen Sprache und immer wieder neuen bildlichen stellungen bzw Vergleichen wurden Gegenstände unter verschiedenen Gesichtspunk-
Dar-ten differenziert betrachtet: „Einerseits wird versucht, die Dinge begrifflich zu fixieren,
ihr Wesen zu erfassen, andererseits ist, da die Welt als Schein, ihr Wesenskern als dem Menschen verborgen gesehen wird, nur noch die Potenzierung dieses Scheins möglich“
(Balzer/ Mertens 1990: 164) Mithilfe der Bildung von wirklichen und scheinbaren
Ge-gensätzen wird die zweite Ebene, die der vergeistigten Bildlichkeit hervorgerufen,
wel-che die Spannung zwiswel-chen Lebensfreude vs Weltschmerz; Todesangst vs jahung; Lebensgier vs Sehnsucht nach dem Jenseits u Ä darstellt: „Das Individuelle
Trang 20Lebensbe-hat angesichts der völligen Nichtigkeit des irdischen Seins keine Bedeutung“ (Balzer/
Mertens 1990: 164)
Ein weiterer Aspekt ist die Funktion der Rhetorik in der Dichtung Dichter müssen die gefundenen Thesen und Argumente wirkungsvoll ordnen und sie in einer einwandfreien
rhetorischen Gestaltung darbieten: „[ ] Festhalten an der Rhetorik als Leitdisziplin
des 17 Jahrhunderts, also an der sprachlichen Ausschmückung dessen, was man sagen will“ (Neuhaus 2017: 136) Die Rhetorik war in der Epochenzeit von so großer Bedeu-
tung, dass sie sich zu einer gesellschaftlichen Kunstübung und einem wichtigen richtsfach in Schulen entwickelte Erst zur Hochaufklärung fand der Paradigmenwech-sel statt, als sich der Dichter nicht mehr nach Regeln richtete, sondern seine eigenen Regeln schuf (vgl Neuhaus 2017: 138ff)
Unter-2.3.3 Das deutsche Sonett
Das Sonett, dessen Ursprung im 13 Jahrhundert in Italien liegt, war neben der Ode und dem Epigramm, für die Opitz ebenfalls Regeln aufgestellt hatte, die vorherrschende Gedichtform der deutschen Barockzeit Diese Form hatte Francesco Petrarca (1304 – 1374) durch seine Liebeslyrik bekannt gemacht und damit eine nachhaltige Vorlage für zahlreiche Nachahmer bzw Petrarkisten des deutschen Barock geschaffen (vgl Meid 2000: 28) Das Sonett erscheint besonders geeignet durch seine antithetische Gestal-tung, welche die Unauflöslichkeit des Konflikts darstellt In diesem Abschnitt wird der Fokus auf das deutsche Sonett gelegt Die wesentlichen Charakteristika eines Sonetts werden im Folgenden aufgeführt
Ein Sonett besteht üblicherweise aus 14 Versen, die in zwei Quartette und zwei Terzette gegliedert sind Die ersten beiden Strophen (Quartette) setzen sich aus vier Versen zu-sammen, die letzten Strophen (Terzette) bestehen aus nur je drei Versen (vgl Balzer/ Mertens 1990: 170ff) Das Endreimschema eines Sonetts variiert je nach Vertreter Der Unterschied zwischen der von Opitz geregelten Form und dem italienischen Sonett be-
steht in der Reimordnung: „Opitz folgte [ ] der Reimordnung abba abba ccd eed,
wäh-rend das italienische Sonett Reimpaare in den Terzetten vermied (Meid 2000: 60) Die
Terzette nach italienischer Manier weisen das Reimschema cdc dcd oder sogar cdc dee
auf (vgl Niefanger 2006: 94) „Opitz nannte als Verse für das Sonett Alexandriner oder
Trang 21Vers communs 6 “ (vgl Meid 2000: 53)., Im Vergleich zu dem Vers commun wurde der
Alexandriner, ein sechshebiger Jambus mit einer Zäsur nach der dritten Hebung
deut-lich bevorzugt, da er wenig starr klingt und sich formal für antithetische rung eignet Daher bildet die immer gleichbleibende strenge und klare Form einen be-wussten Gegensatz bzw eine ausgeprägte Antithetik: Diesseits vs Jenseits; Spiel vs Ernst; Schein vs Sein; Wollust vs Tugend; Erotik vs Askese; irdisches vs himmli-sches Leben etc Die bevorzugte Benutzung verschiedener Stilmittel wie z B Verglei-che und Metaphern trägt ebenfalls zur inhaltlichen Darstellung bei (vgl Meid 2000: 53)
Gedankenfüh-Obwohl die Verse melodisch fast gleich klingen, wird die Spannung dadurch getragen, dass die persönliche Prägung sich hinter dem Formzwang verbirgt (Baumann/ Oberle 1996: 58) Der innere Aufbau sieht im Idealfall so aus:
„die erste Strophe stellt eine These bzw eine Behauptung, einen Gedanken, eine rung o Ä, die zweite eine Antithese, d h sie beleuchtet das Thema von einem anderen, vielleicht ergänzenden oder sogar gegensätzlichen Standpunkt aus Die dritte und vierte Strophe, also die Terzette, führen das angesprochene Thema dann zu einem Ergebnis bzw
Erfah-zu einer endgültigen Aussage (Synthese)“ (Handmann 20177 )
Prinzipiell dienen die Terzette zur Steigerung, wobei das letzte Terzett als eine mierende Häufung angesehen wird, sodass ein Sonett einen epigrammatischen Charak-ter bekommt (vgl Niefanger 2006: 94) Die vorliegende Tabelle fasst ausschließlich der rhetorischen Figuren auf verschiedenen Ebenen die grundlegenden formalen Merkmale eines Sonetts zusammen
Du siehst, wohin du siehst, / nur Eitelkeit auf Erden
Was dieser heute baut, / reißt jener morgen ein:
Wo jetzt noch Städte stehn, / wird eine Wiese sein,
Auf der ein Schäferskind / wird spielen mit den Herden
Was jetzt noch prächtig blüht, / soll bald zertreten werden
(u – u – u – / u – u – u –)
6 Vers communs sind fünfhebige Jamben mit einer Zäsur nach der zweiten Hebung
7 Handmand, Ernesto (2019): Was ist ein Sonett, [online] tion.html [15.12.2019]
Trang 22http://www.handmann.phantasus.de/sonett_defini-Was jetzt so pocht und trotzt, / ist morgen Asch’ und Bein,
Nichts ist, das ewig sei, / kein Erz, kein Marmorstein
Jetzt lacht das Glück uns an, / bald donnern die Beschwerden
Der hohen Taten Ruhm / muss wie ein Traum vergehn
Soll denn das Spiel der Zeit, / der leichte Mensch, bestehn?
Ach! Was ist alles dies, / was wir für köstlich achten,
Als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub und Wind;
Als eine Wiesenblum’, die man nicht wieder find’t
Noch will, was ewig ist, kein einzig Mensch betrachten!
¨ Quartette: Einführung, Antithetik
¨ Terzette: Fazit, Verallgemeinerung
¨ Antithese
¨ Parallelität
Tabelle 1: Die grundlegenden formalen Merkmale des deutschen Sonetts am Beispiel von Es
ist alles eitel (Andreas Gryphius)
3 Die Dynastien in Vietnam und das vietnamesische 7-8-Gedicht
3.1 Politische und sozialgeschichtliche Grundlagen der vietnamesischen Dynastien vom 10 bis zur ersten Hälfte des 19 Jahrhunderts
Im direkten zeitlichen Vergleich zu der Epoche des Barock, die fast zwei Jahrhunderte umspannte, ist die feudalistische Ära in Vietnam weitaus länger mit wechselnden Dy-nastien vom 10 Jahrhundert bis zur ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts Daher bedarf es für einen kontrastiven Vergleich einer exakten zeitlichen Abgrenzung Die vorliegende
Arbeit untersucht den Zeitraum vom 16 bis zur ersten Hälfte des 19 Jahrhunderts
Allerdings sollte dieser Zeitabschnitt aufgrund von komplexen politischen und sozialen Verflechtungen nicht einzeln, sondern im Rahmen der gesamten feudalistischen Ära betrachtet werden
Der vietnamesische Feudalismus entstand, existierte und entwickelte sich in zehn hunderten durch Machtergreifung und Untergang verschiedener Dynastien Der Zeit-raum vom 10 bis zum 15 Jahrhundert war die allererste Epoche des Aufbaus des Lan-des und der Konsolidierung der Machtstrukturen und Organisation Ständige Unruhen
Jahr-in den darauffolgenden fünf Jahrhunderten (16 – 19 Jahrhundert) bereiteten dem dalismus dann das zwangsläufige Ende Den Ausgangspunkt für diese Krisenzeit bilde-ten fortwährende kriegerische Auseinandersetzungen Darunter waren zunächst der von
Trang 23Feu-1545 bis 1592 dauernde Krieg zwischen beiden königlichen Häusern Lê und Mạc, rauffolgend der Konflikt zwischen Trịnh und Nguyễn (1627 – 1672) In dem von Trịnh-Regenten regierten Territorium, Nordvietnam, wurden die Untertanen bis zum Äußers-ten ausgebeutet, damit der Kaiser und dessen Mandarine8 sich ein unbedenklich genuss-volles Leben leisten konnten Dies führte zwangsläufig zu wirtschaftlicher Erschöp-fung, wiederkehrenden Ernteausfällen und drohender Hungersnot Die Nguyễn-Herr-scher des Königreichs in Mittel- und Südvietnam, entschlossen sich zur Abschottungs-politik, aufgrund derer ihr Land weitgehend in Rückstand geriet Somit brachen zahl-lose Bauernaufstände in dem damaligen aufgeteilten Vietnam aus Die Situation ver-schlimmerte sich im 18 Jahrhundert trotz der bis heute bekannten siegreichen Tây Sơn-Rebellion (vgl Lã Nhâm Thìn 2015: 13 - 15) Von der Mitte des 18 bis zu der ersten Hälfte des 19 Jahrhunderts durchlebte das Land die konfliktreiche Zeit der kurzzeitigen Herrschaft der Tây Sơn-Dynastie und die der Nguyễn-Kaiserdynastie durchlebte Auch
da-in dieser Zeit gab es seitens vieler ehemaliger Mandarda-ine politische Uneda-inigkeiten, dass diese sich entweder ins Einsiedlerleben zurückzogen oder dem herrschenden Kai-ser nur widerstrebend dienten Glanzpunkte dieses Zeitabschnitts waren die Erweite-rung des Territoriums bis in den Süden und hervorragende Erfolge in der Literatur, wel-che im nächsten Abschnitt näher dargestellt werden
so-3.2 Die Literatur der vietnamesischen Dynastien vom 10 bis zur ersten Hälfte des 19 Jahrhunderts im Überblick
Das vietnamesische Volk wurde vor mehr als 2000 Jahren von China erobert und war rund ein Jahrtausend lang (111 v Chr - 939 n Chr.) in das chinesische Reich eingegliedert Das Land stark von chinesischen Einflüssen geprägt, von der Politik bis hin zur Kultur und Religion Das Volk lernte das klassische Chinesisch und folgte dem Konfuzianismus Nachdem die Vietnamesen sich 939 der chinesichen Macht entzogen hatten, waren wir zwar politisch unabhängig, jedoch kulturell und religiös immer noch von China beeinflusst Das klassische Chinesisch galt als die offzielle Schrift, die unersetzlich für Dichtung, Staatsexamen und andere staatliche Angelegenheiten war Dementsprechend wurde die in klassischer chinesischer Sprache geschriebene Literatur
8 Mandarin: zur politischen und sozialen Führungsschicht gehörender Staatsbeamter
Trang 24als Hochliteratur angesehen (vgl Dương Quảng Hàm 2019: 10f) Die Literatur der
vi-etnamesischen Dynastien trug unterschiedliche Namen wie văn học cổ (alte Literatur),
văn học cổ điển (klassische Literatur) oder văn học thời phong kiến (feudale Literatur)
Sie brachte im Laufe ihrer jahrhundertelangen Entwicklung erhebliche Unterschiede in Bezug auf Schriften, Genres, Sprachstile, ästhetische Konzeptionen und Weltanschau-ungen mit sich (vgl Lã Nhâm Thìn 2012: 9f) Die Literatur wird demnach in vier Pha-
sen unterteilt In der Anfangsphase (10 – 15 Jahrhundert) war ausschließlich die
funktionale Literatur präsent Diese umfasste offzielle Ankündigungen vietnamesischer Könige oder Schriften, die bedeutende historische Ereignisse des Landes zum Inhalt hatten Sie ist nicht nur inhaltlich, sondern auch formal und sprachlich begrenzt
Typische Textsorten waren chiếu 9 , biểu 10 , tấu 11 , sớ 12, die in chinesischen chen verfasst wurden Da literarische Werke die Position und das Prestige der Verfasser zur Schau stellen sollen, beschränkte sich die Autorengruppe vornehmlich auf Kaiser, Mandarine, Generäle und Gelehrte Diese Literatur war eine vollkommen einseitige Li-teratur, da es prinzipiell keinen Platz für Meinungsaustausch und Kritik gab (vgl Lã Nhâm Thìn 2012: 10f)
Schriftzei-Die chinesischen Schriftzeichen waren weiterhin vom 15 bis zum Anfang des 18 Jahrhunderts von großer Bedeutung Die Lê-Dynastie ist in der vietnamesischen
Geschichte die stärkste und stabilste Dynastie, in der viel Wert auf Literatur gelegt wurde Kaiser Lê Thánh Tông (1442 – 1497), ein ruhmreicher und patenter Kaiser, war
Gründer der allerersten Literaturgesellschaft names Hội Tao Đàn (vgl Dương Quảng
Hàm 2019: 100) Bekannt geworden ist die Epoche indes hauptsächlich aufgrund ihrer Geschichtsbücher und Versromane In dieser Zeit ist eine große Anzahl beachtlicher Prosawerke entstanden, welche die Talente der königlichen Familie zeigten Allerdings gab es in diesem Zeitabschnitt wenig herausragende Autoren Die Literatur war thema-tisch vielfältiger, geschildert wurden nämlich die Tugenden des kaiserlichen Hofs, Patriotismus, politische und religiöse Vorstellungen sowie moralisch-ethische
9 Ein vom König verfasster Brief, um dessen Untertanen Befehle zu erteilen
10 Ein von Mandarinen verfasster Brief an den König zum Gratulieren, Danken oder Äußern von Wünschen (Bitten)
11 Ein von Mandarinen verfasster und ihrem König überreichter Brief, in dem sie ihm Strategien oder Meinungen mitteilen
12 Ein von Mandarinen verfasster und ihrem König überreichter Brief, indem sie ihn um etwas bitten
Trang 25Vervollkommnung in einer Feudalgesellschaft (vgl Lã Nhâm Thìn 2012: 14; 22) In
dieser Zeit sind die ersten Arbeiten in Chữ Nôm (Schrift) entstanden Die
Nôm-Schrift ist historisch am Ende des 8 Jahrhunderts entstanden, jedoch erst im 14 Jahrhundert zum ersten Mal von Hàn Thuyên (1229 – ?) zum Dichten benutzt worden Seitdem folgten ihm die anderen Gelehrten Nguyễn Trãi (1380 – 1442) und Nguyễn Bỉnh Khiêm (1491 – 1585) waren die bekanntesten Autoren dieses Zeitabschnitts, deren Werke in Nôm-Schrift geschrieben wurden
Im Grunde genommen ist Nôm-Schrift eine Abwandlung chinesischer Schriftzeichen Entweder wurde ein Zeichen aus dem klassischen Chinesisch direkt entlehnt, oder ei-nige Zeichen wurden für die Bildung eines neuen Wortes kombiniert Es muss einge-räumt werden, dass diese Schriftform mit der längeren Nichtanerkennung bzw Verwei-gerung des Königshofs zu kämpfen hatte Dies hatte einerseits die Existenz unterschied-licher Schreibweisen für ein bestimmtes Wort, andererseits Unklarheiten über die Wort-bedeutung eines bestimmten Schriftzeichens zur Folge Daraus ergeben sich im Nachhinein mehrere Variationen bei Übersetzungen von Texten aus der Nôm-Schrift in das moderne Vietnameisch (in Form von lateinischen Buchstaben) (vgl Dương Quảng Hàm 2019: 103 – 110)
Durch zahlreiche gewalttätige Konflikte geriet das Land in eine schwere Krise
Allerdings hat die Literatur vom 18 bis zur ersten Hälte des 19 Jahrhunderts,
durchschlagende Erfolge erzielt Die Nôm-Schrift wurde langsam formstabil und weitreichend in der Dichtung verwendet Dies ist auch die Blütezeit von Gedichten in Nôm-Schrift mit einem reichhaltigen Themenkanon und mehreren großen Dichtern wie
Hồ Xuân Hương, Bà Huyện Thanh Quan, Nguyễn Khuyến usw (vgl Lã Nhâm Thìn 2012: 24f) Obgleich viele Werke in das moderne Vietnameisch übersetzt worden sind, sind manche Stellen für die heutigen Leser immer noch unverständlich, sodass man sich
in vielen Fällen den gesamten Originaltext im klassischen Chinesisch anschauen und die Botschaft aus dem Kontext erschließen muss Es bedarf neben hoher Sprachkompe-tenz auch eines umfangreichen Wissensschatzes im Hinblick auf die damalige Ge-schichte und Politik, welcher im Rahmen dieser Untersuchung nur bedingt zur Verfü-gung stand Aus diesem Grund untersuche ich im Rahmen meiner Arbeit lediglich die
Trang 26bereits in das moderne Vietnamesisch übersetzten Gedichte, welche auch im Lehrplan der heutigen Schulen zu finden sind Solche Werke, meist von hochgeschätzten Dich-terinnen und Dichtern verfasst, sind charakteristisch für die untersuchte Epoche Zeitlich und geschichtlich gesehen ist diese Zeit eine gute Entsprechung zum deutschen Barock Die Entsprechungen bestehen nämlich nicht nur in der Länge des Zeitraums (mehr als 100 Jahre), sondern auch in gesellschaftlichen Bedingungen und vor allem in Reformbestrebungen in der Literatur im Allgemeinen sowie in der Lyrik im Besonderen Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Zeitabschnitte sind in Abschnitt 3 zu entnehmen
Die Literatur der vietnamesischen Dynastien erlebte von der zweiten Hälte des 19 Jahrhunderts bis Anfang des 20 Jahrhunderts ihre letzte Zeit mit wesentlich
geänderten historischen Bedingungen Vietnam stand unter französischer Kolonialherrschaft Unter dem Einfluss der westlichen Literatur sind neue Genres und Stile aufgenommen worden, die klassische Literatur verlor somit an Bedeutung (vgl Lã Nhâm Thìn 2012: 26)
3.3 Nôm-Gedichte vom 16 bis zur ersten Hälfte des 19 Jahrhunderts
3.3.1 Themen
Obwohl sie im Vergleich zum klassischen Chinesisch zunächst als minderwertig sehen wurde, gewann die Nôm-Schrift im Laufe der Zeit an Ansehen, bis die Nôm-Literatur im Allgemeinen bzw die Nôm-Lyrik im Besonderen im 18 Jahrhundert ihre Blütezeit erlebte Vom 16 bis zur ersten Hälfte des 19 Jahrhunderts wurde der funktionalen Literatur der Raum entzogen Dichtung sollte lehrreich sein und zielte darauf ab, dem Menschen das Wahre, Gute und Schöne zu vermitteln (vgl Lã Nhâm Thìn 2012: 12) In dieser Hinsicht konzentrierten sich die Autoren nicht mehr nur auf die herrschende Feudalklasse wie in der Anfangsphase, sondern es wurde über die Realität der Gesellschaft, über die Schönheit und die Tugenden des normalen Menschen refektiert Viele Werke aus dieser Zeit sind unsterblich geworden, vor allem der
ange-weltbekannte Versroman Das Mädchen Kieu und zahlreiche Gedichte, welche in
An-lehnung an die chinesische Poetik verfasst wurden Lyrik war sowohl inhaltlich als auch formal abwechslungsreich Der thematische Schwerpunkt hat sich in der Mitte des 18
Trang 27Jahrhunderts deutlich gewandelt Zuvor befasste man sich eher mit den traditionellen philosophischen Themen Die Autoren äußerten ihre Vorstellungen vom Bild eines ide-alen Staatswesens bzw eines idealen Landedelmannes in der Feudalgesellschaft, von ethischen Normen und Tugenden der Menschen, um die Zeitgenossen zu belehren Ab der Mitte des 18 Jahrhunderts lag der Fokus auf sozialen Themen wie dem Leben armer Menschen, der Liebe zur Familie oder den Schattenseiten des Feudalismus Neuartig war die Darstellung der Schicksale von Frauen und ihres Wunsches nach Glück, Freiheit und Gerechtigkeit Anfang des 19 Jahrhunderts gab es eine Tendenz zu satirischer Dichtung Inhaltlich wurden die Macken und Unsitten der Menschen kritisiert Das einzige in dem ganzen Zeitabschnitt wiederkehrende Thema waren Na-turbilder Naturbilder waren auch in vielen lyrischen Texten enthalten (vgl Lã Nhâm Thìn 2012: 54 – 106) Die Themen und deren Vertreter (Lyriker) sind in der folgenden Tabelle zusammengefasst:
Nationalbewusstsein
Kritik an den politischen Verhältnissen
Vermittlung ethischer Werte und
Normen
Nguyễn Bỉnh Khiêm (1491 – 1585); Lý Văn Phúc (1785 – 1849); Bùi Hữu Nghĩa (1807 – 1872; Nguyễn Đình Chiểu (1822 – 1888); Tôn Thọ Tường (1825 - 1877)
Vaterlandsliebe, Familienbeziehungen,
Frauenschicksal, Wunsch nach Freiheit,
Liebe und Gerechtigkeit
Hồ Xuân Hương (1772 – 1822), Nguyễn Công Trứ (1778 – 1858), Bà Huyện Thanh Quan (1805 – 1848)
Kritik an den Unsitten der Menschen Nguyễn Khuyến (1796 – 1853), Trần Tế
“Thi pháp của Tàu và âm luật của ta – Như đã nói, thơ nôm ta làm theo phép tắc thơ Tàu,
mà âm thanh tiếng ta cũng tương tự tiếng Tàu (cũng là thứ tiếng đan âm và cũng chia làm
Trang 28tiếng bằng tiếng trắc), nên thi pháp của ta tức là thi pháp của Tàu và các niêm luật của
ta cũng phỏng theo thơ Tàu cả” (Dương Quảng Hàm 2019: 112)
(Wörtliche Übersetzung: Die chinesische Poetik und die vietnamesische Prosodie: Wie bereits erwähnt, folgte unsere Poesie den Regeln der chinesischen Poetik, und unsere Phonetik ähnelte der chinesischen, die auch eine monosyllabische Sprache ist und über fallende vs steigende Töne verfügt Daher war unsere Dichtkunst die chinesische Dichtkunst und die Regel der Anordnung von Tonhöhen folgte ebenso der chinesischen Poesie.)
Daran äußert Lã Nhâm Thìn in seiner Darstellung (vgl 1997: 11) Zweifel nermaßen hatte sich die Nôm-Schrift aus dem klassischen Chinesisch entwickelt Al-lerdings sind die meisten in den früheren Dynastien, also vor dem 15 Jahrhundert, entstandenen Gedichte verloren gegangen, sodass die Frage nach der äußeren Seite der Schriftform noch offenbleibt (vgl Dương Quảng Hàm 2019: 110) Darüber hinaus hat Dương Quảng Hàm die Texte alleine aus Sicht der Poetik, insbesondere auf der Klangebene und hinsichtlich der formalen Struktur betrachtet Die Eigenleistung der vietnamesischen Autoren, vor allem deren Kreativität, sogar deren Mut zu Verstößen gegen strenge poetische Regeln wurde von ihm außer Acht gelassen Schon im 15 Jahrhundert hat Nguyễn Trãi erste Neuerungen durch kleine Änderungen an der Form erzielt, indem er gelegentlich sechs statt sieben Silben in einer Zeile verarbeitete Den Rhythmus im Vers hat er von 4/3 zu 3/4 moduliert Daneben wurden in seiner Dichtung viele Redewendungen und Sprichwörter gebraucht, welche stark von der kulturellen Identität der Vietnamesen geprägt waren Dies war jedoch die Anfangsphase, in der die ersten Versuche der Modernisierung und Loslösung von der chinesischen Form voran-getrieben wurden (vgl Lã Nhâm Thìn 1997: 39) Ab dem 18 Jahrhundert befolgten Dichter zwar die herkömmlichen Formprinzipien, nach und nach entwickelten sie je-doch einen persönlichen Autorenstil, welcher vor allem neue Aspekte aus der vietna-mesischen Kultur und Symbolik einbezog Hervorzuheben ist außerdem, dass eine ge-wisse Schönheit des Alltäglichen in die vietnamesische Literatur Einzug hielt
Zugegebe-Die Verwendung von Sinnbildern war von konfuzianischen Grundgedanken geprägt
So dienen bestimmte Pflanzen als Ausdruck für ehrenhafte Männer, z.B tùng, cúc, trúc,
mai; Blumen stehen für das Gesicht schöner Frauen; deren Haare werden meist mit
sanften Wolken verglichen; Stein und Gold symbolisieren die Treue Die Verwendung solcher Bilder kann auch als eine Parallele zur petrarkistischen Lyrik angesehen
Trang 29werden Bis in die Mitte des 18 Jahrhunderts kamen solche klassischen Bilder häufig
in Gedichten vor Zahlreiche historische Anspielungen aus der chinesischen Dichtung wurden von vietnamesischen Autoren entliehen In der späteren Phase eröffnete sich den Autoren eine neue Perspektive, sie lösten sich zunehmend von der traditionellen Bildsprache des Konfuzianismus und fingen an, aus einem allgemeineren Themenpool
zu schöpfen Aus ihrer persönlichen Beobachtung gewannen sie neue ästhetische Maßstäbe So rückte in ihren Gedichten das Bild des alltäglichen menschlichen Lebens
in den Vordergrund (vgl Lã Nhâm Thìn 1997: 126 – 133) Erwähnenswert ist die Beschreibung des Frauenbildes und seiner Ästhetik und Schönheit im Besondern, indem gewöhnliche Dinge die konventionellen edlen Naturbilder ersetzen Beispielweise wurde die namhafte Figur einer schönen Frau in einem Gedicht von Hồ
Xuân Hương mit bánh trôi nước 13 (siehe Bild), einer traditionellen süßen Delikatesse,
verglichen (vgl Lã Nhâm Thìn 1997: 138)
Der in der Dichtung dargestellte Raum war meistens statisch und mit natürlichen menten wie Bergen, Flüssen, dem Mond, und der Sonne verbunden, während die Zeit oft als eine schnell vergehende und sich wiederholende Instanz betrachtet wurde Dies spiegelte die mit landwirtschaftlichen Tätigkeiten verbundene Weltanschauung der Vietnamesen wider (vgl Lã Nhâm Thìn 2012: 30ff) Hồ Xuân Hương betrachtete die Zeit jedoch als einen agilen, sich bewegenden lebendigen Raum Darüber hinaus trug die Darstellung von Zeit und Raum zur Charakterisierung der Figuren bzw zum Ausdruck von Gefühlen des lyrischen Ichs bei
Ele-13 Es wird aus braunem Zucker hergestellt, in Klebreis gewickelt und in kochendem Wasser gekocht
Trang 30Die klassische chinesische Dichtung verfügte über wenig hư từ 14 Der sparsam und gewählt verwendete Wortschatz konnte jedoch die optimale suggestive Wirkung erzeugen (vgl Lã Nhâm Thìn 1997: 33f) Im Vergleich zu der klassischen chinesischen Poesie ist die Sprache in den vietnamesischen Gedichten weitgehend freier und „bana-ler“ Eine wichtige Rolle spielen nicht die Substantive, sondern Verben, Adjektive, Re-duplikationswörter und formale Wörter Solche Faktoren haben die Sprache einfacher, verständlicher, aber auch vielfältiger und lebendiger gemacht Man tendierte nicht dazu, mit seinen reichen Wortschatz zu prahlen (vgl Lã Nhâm Thìn 1997: 224) Im Allge-meinen variierte der Sprachstil von klassisch über umgangssprachlich bis hin zu sarkas-tisch Und diese Vielfalt hat die untersuchte Epoche zu der erfolgreichsten Zeit der Nôm-Lyrik gemacht
3.2.3 Das vietnamesische 7-8-Gedicht
Grundlegend für die vietnamesische Literatur war die Poetik der Chinesen Gedichte hielten über mehrere Jahrhunderte hinweg die von chinesischen Autoren aufgestellten Regeln ein Dazu gehört das 7-8-Gedicht Das 7-8-Gedicht als solches ist eine streng geregelte chinesische Gedichtform, entstanden in der Tang-Dynastie (618 – 907) In Abgrenzung zum klassischen chinesischen 7-8 wird in dieser Abhandlung der Begriff
das vietnamesische 7-8-Gedicht verwendet, als Bezeichnung für Gedichte, welche der
grundlegenden chinesischen Poetik folgten, jedoch in Nôm-Schrift verfasst und der vietnamesischen Sprache angepasst wurden Diese Gedichtform hat sich in Vietnam erst im 18 Jahrhundert vollkommen stabilisiert Ein 7-8-Gedicht besteht aus acht metrisch gegliederten Verszeilen mit jeweils sieben Silben pro Verszeile Dessen
Dichtungsregeln umfassen fünf Bausteine: Vần, đối, luật, niêm, bố cục (vgl Dương
Quảng Hàm 2019: 113 – 117)
- Vần (Reime): Es werden zum größten Teil Silben mit fallenden Tönen als Reim
ver-wendet, z.B veo, tà, nur ab und zu Silben mit steigenden Tönen Das letzte Wort im
ersten, zweiten, vierten, sechsten und achten Vers muss sich reimen
14 Funktionswörter: sie haben keine lexikalische Funktion und somit keine Identifizierungsfunktion, sondern nur eine grammatische Funktion
Trang 31- Đối (Parallelismen): Diese Anforderung ist von großer Bedeutung und gliedert sich
in zwei Ebenen: Wort- und Versebene Auf der Wortebene müssen zwei Wörter, die in einem Gegensatz stehen sollen, der gleichen Wortart und Tonhöhe angehören Auf der Versebene bilden zwei gegensätzliche Ideen in zwei aufeinanderfolgenden Versen (Vers 3 – Vers 4 und Vers 5 – Vers 6) einen Parallelismus
- Luật bằng trắc (1 Regel der Tonhöhe): Deutsch gehört zu den Akzentprachen, bei
denen der Wortakzent bedeutungstragend ist, dies führt dazu, dass der Versakzent vor allem durch Tonstärke (dynamischer Akzent) realisiert wird Im Unterschied dazu ist Vietnamesisch eine tonale und monosyllabische Sprache In der vietnamesischen Schrift werden die Töne durch diakritische Zeichen kenntlich gemacht (siehe Tabelle)
nặng tiefer fallender Ton Unterpunkt mạ (vergolden)
hỏi fallend-steigender Ton Haken mả (Grab)
ngã hoher gebrochener Ton Tilde mã (Pferd)
Tabelle 3: Die Töne im vietnamesischen Sprachsystem
Durch den Wechsel zwischen thanh bằng* (ngang, huyền) und thanh trắc (nặng, sắc,
hỏi, ngã) wird der Versakzent (melodischer Akzent) erzeugt Im Rahmen dieser Arbeit
wird für thanh bằng* (ngang, huyền) der Begriff „fallende Töne“ verwendet (F), für
thanh trắc (nặng, sắc, hỏi, ngã) „steigende Töne“ (S), um die Komplexität der
Bezeich-nungen zu verringern Für die 7-8-Gedichtform bestehen drei Schemata, wobei die beiden ersten Muster beim Dichten besonders bevorzugt wurden; und Muster 1 im Gegensatz zu Muster 3 stand (siehe Tabelle)
Trang 32Tabelle 4: Das Schema der Tonhöhe im 7-8-Gedicht
- Niêm (2 Regel der Tonhöhe): Diese Regel besagt, dass das zweite vorkommende
Wort in bestimmten Versen die gleiche Tonhöhe besitzen soll, nämlich in Vers 1 und
8, 2 und 3, 4 und 5, 6 und 7
- Bố cục (Aufbau): Der Aufbau ist Ausdruck des konstanten, aber auch veränderlichen
Universums Er spiegelt die Einheit von widersprechenden, einander ausschließenden, gegensätzlichen Tendenzen wieder Die ersten beiden und die letzten beiden Verse bilden den Rahmen, wobei die umrahmten vier Verse (Vers 3, 4, 5, 6) in zwei symmetrische Paare untergliedert sind und gegensätzliche Verhältnisse darstellen Alle Verse zusammen machen einen kompakten Block aus Eine ideale inhaltliche Strukturierungen sieht folgendermaßen aus:
• Đề (Einführung): Die beiden ersten Verse führen den Leser in das Gedicht ein
Die Einleitung soll allgemein Auskunft über den Sachverhalt, die Zeit und den Raum geben
• Thực (Beschreibung): Gefolgt von der Einleitung sollen Vers 3 und 4 die realen,
natürlichen Gegebenheiten reflektieren, z B die Umgebung beschreiben
• Luận (kritische Auseinandersetzung/ Argumentation): In Vers 5 und 6 kommen
– im Kontrast hierzu – die Gedanken, Haltungen und Gefühle des lyrischen Ichs gegenüber dem zuvor bezeichneten Sachverhalt/ Zustand zum Ausdruck Dieser Teil findet in dem ersten Terzett eines Sonetts eine Entsprechung
• Kết (Fazit/ Stellungnahme): Die beiden letzten Verse geben uns eine
Zusammen-fassung oder Gefühlsäußerung und schließen das Gedicht, zumeist mit einer fenen Frage
of-Was die inhaltliche Struktur angeht, gibt es verschiedene Konzepte Beim Dichten hielten sich die Dichter gelegentlich auch nicht an die Grundregeln In der Tat ist die
Trang 33Grenze zwischen Thực (Beschreibung) und Luận (kritische Auseinandersetzung) nicht
immer klar Es bedarf daher der Flexibilität bei der Analyse und Interpretation der Texte Die vorliegende Tabelle fasst ausschließlich der rhetorischen Figuren auf ver-schiedenen Ebenen die grundlegenden formalen Merkmale eines 7-8-Gedichts zusammen
Bước tới Đèo Ngang, bóng xế tà,
Cỏ cây chen đá, lá chen hoa
¨ 8 Verse, die in 4 Teile unterteilt werden:
Einführung, Beschreibung, kritische setzung, Fazit
Auseinander-¨ Parallelität
¨ Antithese
Lom khom dưới núi, tiều vài chú
Lác đác bên sông, chợ mấy nhà
Nhớ nước đau lòng, con quốc quốc,
Thương nhà mỏi miệng, cái gia gia
Dừng chân đứng lại trời, non, nước,
Một mảnh tình riêng, ta với ta
Tabelle 5: Die grundlegenden formalen Merkmale des 7-8-Gedichts am Beispiel von Qua
Đèo Ngang (Bà Huyện Thanh Quan)
3.4 Vergleich der deutschen Barockliteratur mit der vietnamesischen Literatur vom 16 Jahrhundert bis zur ersten Hälfte des 19 Jahrhunderts
Unterzieht man die deutsche Barockliteratur und die vietnamesische Literatur vom 16 Jahrhundert bis zur ersten Hälfte des 19 Jahrhunderts einem Vergleich, herrschen hauptsächlich Gemeinsamkeiten vor Diese werden in den folgenden Abschnitten er-läutert
Die Literatur der beiden Epochen wurde stark von den politischen, religiösen und sellschaftlichen Bedingungen geprägt Während die Menschen in der deutschen Ba-
ge-rockzeit viele kriegerische Auseinandersetzungen und die mehrfache Teilung des des bewältigen mussten, durchlebte das vietnamesische Volk vom 16 Jahrhundert bis zur ersten Hälfte des 19 Jahrhunderts nach dem andauernden Aufstieg und Niedergang verschiedener Dynastien eine der folgenreichsten Krisen in seiner Geschichte über-haupt Die langwierigen Kriege, Rebellionen und politischen Turbulenzen führten zu unabwendbarem Elend zahlloser Menschen, die täglich mit Hungersnöten und Seuchen kämpfen mussten Wissend um dieses Schicksal ihrer Untertanen führten die deutschen
Trang 34Lan-Landesherren und die vietnamesischen Könige dennoch ein prächtiges Leben Dieser scharfe Gegensatz hat eine Vielzahl von Autoren in ihren Werken inspiriert Besonders wichtig für die Entwicklung der vietnamesischen Kultur war der zunehmende Handel Damit einhergehend entstand auch ein offener und mehr weltlicher Zeitgeist und Esprit, der bis in die Kleinstädte getragen wurde Dies ist vor allem Kaufleuten aus dem 16 und 17 Jahrhundert zu verdanken, da sie durch Handel und Kontakt mit fremden Län-dern und Kulturen eine tolerante, aufgeschlossene Haltung gewannen und somit neuen Wind in die Feudalgesellschaft brachten Diese soziale Klasse beteiligte sich maßgeb-lich an der Veröffentlichung und Rezeption literarischer Produkte (vgl Lã Nhâm Thìn 2015: 18) Eine Entsprechung dafür findet man auch im „modernen“ Bürgertum der deutschen Barockzeit, darunter waren Banker, Kaufleute sowie Beamte, deren Bildung und Besitz sie sozial aufwerteten Viele bürgerliche Schriftsteller, denen Aufstiegsmög-lichkeiten und Anerkennung versagt waren, hielten Distanz zum Hof (vgl Balzer/ Mertens 1990: 163f) Charakteristisch für die Barockzeit waren auch der religiöse Krieg und der fanatische Glauben der Menschen an die göttliche Instanz und das gottbe-stimmte Leben nach dem Tod Im Gegensatz dazu hatten die Vietnamesen mittlerweile die Blüte und den Rückgang unterschiedlicher Religionen erlebt, von Konfuzianismus über Buddhismus bis hin zu Taoismus Dennoch behielten religiöse Überzeugungen auch in der vietnamesischen Literatur einen festen Platz Der Unterschied besteht darin, dass die deutschen Autoren von der gottgewollten Ordnung überzeugt waren und infol-gedessen versuchten, durch ihre Texte, die stark von den drei Leitmotiven der Zeit ge-prägt waren, den Lesern diese Ordnung bewusst zu machen Die Menschen wurden er-mahnt, ihr vorgezeichnetes Schicksal zu akzeptieren und ein ewiges Leben im Jenseits
zu erwarten In der vietnamesischen Literatur hingegen gedieh solches Predigertum nur
in den früheren Phasen, als das Gedankengut des Konfuzianismus verbreitet werden sollte In der späteren Phase, ab dem 18 Jahrhundert, wurde dieses Thema weniger behandelt Immer mehr Autoren wagten Kritik an den konservativen Prinzipien der dem Konfuzianismus folgenden Feudalgesellschaft und äußerten ihre Empathie für die ar-men Menschen, vor allem für die Frauen
Trang 35In beiden Ländern gab es in gewissem Maße Gemeinsamkeiten bezüglich des Auftrags der Dichtung Dichtung hatte sowohl in der Barockzeit als auch in dem ganzen Zeital-
ter der Dynastien den Auftrag, zu belehren Die barocken Zeitgenossen sollten sich von dem in Gottes Willen beschlossenen Staatsaufbau überzeugen lassen Die Belehrungs-funktion war in der Tat stark mit Politik und Religion verbunden Lobgedichte besangen die Tugenden der Fürsten und bestätigten implizit ihre Macht Lobgedichte kamen in der vietnamesischen Dichtung auch vor, jedoch vielmehr in der vorhergehenden Peri-ode, als die Dichtung einem König oder einem Helden Ehrfurcht und Respekt erweisen wollte In der Krisenzeit vom 18 Jahrhundert bis zur ersten Hälfte des 19 Jahrhunderts setzten sich die Autoren mit mehreren Themen auseinander und legten eher Gewicht auf die Humanität Sie äußerten Kritik an der Ständegesellschaft und Sympathie für schöne, aber unglückliche Menschen Zu belehren, verband sich für sie mit der Hoff-nung auf mehr Menschenrechte und ein besseres Leben Äußerlich gesehen hatte die Literatur beider Epochen zwar die gleiche Funktion, aber die Belehrung wurde unter-schiedlich realisiert Die Nôm-Literatur mag etwas humanistischer und demokratischer als die Barockliteratur sein Dies kann wie folgt erklärt werden: Abgesehen vom Mit-telalter ist das Barock die erste Literaturepoche, in der das Deutsche literaturfähig wurde Unter direktem Einfluss der vorangegangenen Reformationszeit und des religi-ösen Krieges war die Literatur theologisch geprägt Die Herrscher der neu gegründeten Einzelstaaten nutzten Literatur als Mittel zur Konsolidierung ihrer Macht Im Gegensatz dazu entwickelte sich die Nôm-Literatur beständiger Die Zeitgenossen erlebten die schlimmsten Zeiten, als der Feudalismus langsam zu Ende ging Die Mehrzahl von Dichtern, meist unzufrieden mit der damaligen Situation, lenkten ihre Aufmerksamkeit auf soziale Fragen
Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen den beiden Epochen sind die umfassenden formbestrebungen bezüglich der Schriftform und der Poetik Es bedurfte einer offizi-
Re-ellen Schrift und einer richtungsweisenden Poetik, um dichten zu können Die men in der vietnamesischen Literatur wurden meist von radikalen Gelehrten durchge-führt Sie haben das klassische Chinesisch in großem Ausmaß modifiziert und die chi-nesische Dichtkunst ausgeliehen und angepasst Die vielen von Opitz erarbeiteten, an
Trang 36Refor-die deutsche Sprache angepassten poetischen Regeln stammen auch aus anderen chen, vor allem aus dem Lateinischen bzw Italienischen und Französischen Sein Ver-such, Fundamente für eine hochdeutsche Dichtkunst zu legen, stieß auf begeisterte Re-
Spra-sonanz Anhand der aufgestellten Regeln war Dichtung erlernbar Dichten wurde ein
Pflichtfach in der Schule und immer mehr Leute konnten dichten, da es eine höhere gesellschaftliche Position vermittelte
Die Autorengruppe des deutschen Barock war recht begrenzt und konzentrierte sich
auf Gelehrte, die zumeist Juristen oder Beamte waren In Vietnam war dies vor dem 15 Jahrhundert der Fall Damals gab es keine reinen Kulturschaffenden, sondern diejeni-gen, die Literatur schrieben, waren Adlige, Konfuzianer, Taoisten, Mönche, Priester oder Heilkundige (vgl Lã Nhâm Thìn 1997: 30f) In der späteren Zeit, insbesondere ab dem 18 Jahrhundert, erweiterte sich die Autorengruppe stark, ein Großteil davon waren die der Mittelklasse angehörenden Konfuzianer, die über den engen Rahmen der Feu-dalgesellschaft hinausgehen wollten Sie wussten sowohl ihr eigenes Talent als auch jenes von den anderen zu schätzen (vgl Lã Nhâm Thìn 2015: 23) Ein weiteres gemein-sames Merkmal ist, dass die Autoren beider Epochen unter dem Einfluss der klassischen Vorbilder standen Erwähnenswert für die Barockliteratur sind der italienische Lyriker Petrarka und der deutsche Reformer Martin Opitz, der sich stark an den Regeln antiker Poetiken orientierte In Vietnam wurden in der Regel die chinesischen Autoren als Vor-bild genommen
In der Anfangsphase haben die vietnamesischen Dichter das Themenspektrum aus der
chinesischen Poesie direkt übernommen Erst ab dem 18 Jahrhundert setzten sie sich mit einem breiteren Themenkanon auseinander In den Texten, in denen es um die Liebe zum Vaterland bzw zur Familie, die Empathie für Frauenschicksale, die Kritik an der Gesellschaft ging, wurde die Humanität nachdrücklich betont Die barocke Dichtung
war unmittelbar mit ihren Leitmotiven Memento mori und carpe diem verknüpft und
geradezu religiös verbunden Das gemeinsame Thema der zwei Epochen ist die stellung der Frauenschönheit Eine Untersuchung, wie die formale Struktur der einzel-nen Gedichtformen zum Ausdruck der Frauenschönheit beiträgt und welche Gemein-samkeiten und Unterschiede sich daraus ergeben, könnte über diese Arbeit hinaus ein
Trang 37Dar-interessantes Forschungsthema bieten Betrachtet man den Sprachstil, ist deutlich zu
erkennen, dass die Verwendung bestimmter rhetorischer Figuren (vor allem Antithesen, Parallelismen, Symbole usw.) für den Inhalt bedeutsam ist Die Bildlichkeit und sug-gestive Wirkung werden durch spezifische Formulierungen und Sinnbilder erzielt Das deutsche Sonett und das vietnamesische 7-8-Gedicht sind streng geregelte Formen mit einer vorgegebenen Anzahl an Verszeilen sowie Silben pro Zeile Es gibt ein be-stimmtes Reimschema und eine inhaltlich festgelegte Struktur Der Wechsel von beton-ten und unbetonten Silben im Deutschen findet in dem flexiblen Wechsel steigender und fallender Töne im Vietnamesischen eine Entsprechung Zugegebenermaßen wurde gelegentlich gegen die Formprinzipien verstoßen, um bestimmte stilistische Wirklun-gen zu erzielen In dieser Hinsicht besteht eine Gemeinsamkeit zu den deutschen Ba-rockautoren, die vielleicht punktuell gegen Regeln verstoßen – aber der Versuch, eigene Regeln zu schaffen, beginnt erst mit dem Sturm und Drang (1765 - 1785) Ebenso fand
die richtige Revolution der vietnamesischen Lyrik erst 1930 unter dem Namen Phong
trào thơ mới (Neue Poesiebewegung) statt Von großem Interesse ist das
Zusammen-spiel zwischen Form und Inhalt der einzelnen Textsorte Die Antwort auf die Frage, ob dieser Zusammenhang bei allen genannten Themen in gleichem Maße festzustellen ist, ist Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit
4 Analyse und Interpretation der ausgewählten Gedichte
4.1 Textauswahl und Vorgehensweise
In der empirischen Untersuchung werden vier Sonette und vier 7-8-Gedichte ausführlich analysiert und interpretiert Die ausgesuchten Werke, geschrieben von verschiedenen Autoren, greifen breitgefächerte Themen auf Die Hintergründe der Autoren spielen auch eine wichtige Rolle und werden deshalb in der Textanalyse miteinbezogen
Trang 38• Qua đèo Ngang
(Bà Huyện Thanh Quan – 19 Jhd)
tive des Barock zur Schau Während Es ist alles eitel das Thema der Nichtigkeit aller irdischen Dinge darstellt und den Leser auf das Jenseits verweist, kommt in An sich eine
bestimmte – stoische – Geisteshaltung zu den irdischen Geschehnissen zum Ausdruck
In dem Gedicht Vergänglichkeit der Schönheit ist nicht nur das Motiv der vanitas,
sondern auch ein nach dem Vorbild Petrarkas gestaltetes Frauenbild zu finden Das letzte Sonett ist Opitz’ Übersetzung eines Liebesgedichts von Petrarka Die ausgewähl-ten 7-8-Gedichte setzen sich mit verschiedenen Themen auseinander, von Schönheit der Natur, Lebensideal bis hin zum Frauenschicksal
Mich interessiert, ob die ausgewählten Gedichte die streng geregelte formale und haltliche Struktur einhalten In Bezug auf die äußere Form wird eine Mehrebenenana-lyse durchgeführt Neben der Anzahl der Strophen, Verszeilen samt Silben pro Vers werden auch das Versmaß und das Reimschema betrachtet Auch die Wortebene, die unterschiedlichen rhetorischen Figuren auf semantischer und syntaktischer Ebenen ver-dienen Beachtung Besondere Aufmerksamkeit wird den rhetorischen Stilmitteln, vor allem den diversen Realisierungsformen der Antithetik geschenkt Im Anschluss daran soll untersucht werden, wie die inhaltliche Struktur mit der Form zusammenspielt Da die beiden Gedichtformen formal unterschiedlich sind, liegt der Fokus des kontrastiven Vergleichs auf der Vielfalt der formal-ästhetischen Gestaltungsmittel zum Ausdruck des Inhalts bzw des epochentypischen Zeitgeistes Der Begriff „Inhalt“ bezieht sich sowohl auf das Thema der einzelnen Gedichte als auch das Dargestellte in jeder Stro-phe Nach der Analyse und Interpretation der einzelnen Gedichte jeder Gruppe wird
Trang 39in-vorerst ein Vergleich zwischen den Texten in derselben Gruppe vorgenommen, bevor ein kontrastiver Vergleich zwischen den beiden Gedichtformen abschließend erfolgt 4.2 Analyse und Interpretation der deutschen Sonette
4.2.1 Es ist alles eitel (Andreas Gryphius – 1637)
Das von Andreas Gryphius verfasste Gedicht Es ist alles eitel, das stark von Vanitas und Memento mori geprägt ist, gilt als ein argumentativer Text Zu Beginn des Gedichts
wird eine allgemeingültige These von dem lyrischen Ich aufgestellt, die sinngemäß
lau-tet: Es ist alles auf der Erde eitel (V.1) Bemerkenswert ist, dass die Überschrift und
die erste Zeile des Gedichts einen intertextuellen Bezug zur Bibel enthalten Die schrift ist ein Zitat aus dem alttestamentarischen Buch Kohelet15 wobei Gryphius hier
Über-die Übersetzung von Martin Luther zitiert: Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger,
ganz eitel 16 Zur Bestätigung dieses Gedankens verhilft ein klar strukturierter
inhaltlicher Aufbau Die nachfolgenden sieben Verse der Quartette widmen sich den Einzelbeobachtungen und Behauptungen, die zur Beweisführung herangezogen werden Es wird veranschaulicht, dass belebte wie unbelebte Natur, materielle wie ide-elle Werte vergeblich bzw vergänglich sind Das Ergebnis der inhaltlichen Gegenüber-stellung in den Quartetten wird dann in den Terzetten zu einer endgültigen Aussage zusammengefasst Der letzte Vers zeigt das christliche Weltbild des Dichters: Das irdische Dasein, bestehend aus Staub und Wind, wird nie aus seinem belanglosen Leben entkommen Es sind höhere religiöse Werte, die dem Leben Sinn geben Das einzige, was im Jenseits bestehen bleibt, ist die Seele Daher sollen sich die Menschen gemäß
dem Motto Memento mori auf die Ewigkeit nach dem Tod vorbereiten und allem
Irdi-15 Das Buch Kohelet (auch als „Prediger“ bzw „Prediger Salomo“ bzw „Ecclesiastes“ bezeichnet), entstanden
im 3 Jahrhundert v Chr., ist einer der interessantesten Texte des Alten Testaments, vor allem deshalb, weil dieses Buch so „anders“ ist als andere Bücher der Bibel: Es enthält kaum jüdische (und erst recht keine christliche) Theologie, stattdessen ist es von griechischer Philosophie (aus der Phase des Hellenismus) und möglicherweise auch von altägyptischen Weisheitslehren beeinflusst Im Mittelpunkt dieses sehr poetischen Textes steht die Va- nitas; die dichterische Auseinandersetzung damit mündet in einen Aufruf zur Lebensfreude, der deutliche Über- einstimmungen mit der Philosophie des Griechen Epikur aufweist
(vgl https://www.bibelwissenschaft.de/bibelkunde/altes-testament/ketubimschriften/predigerkohelet/ )
16 vgl Deutsche Bibelgesellschaft (2019): Prediger Salomo / Kohelet, [online] schaft.de/bibelkunde/altes-testament/ketubimschriften/predigerkohelet/ [19.12.2019].
Trang 40https://www.bibelwissen-schen entsagen Diese pessimistische Weltsicht kann aus eigenen Leiden und gen des Autors im Dreißigjährigen Krieg resultiert haben, was ihn zu der Haltung brachte, die Welt zu verneinen Gryphius litt unter dem frühen Verlust seiner Eltern, der Zerstörung seiner Heimatstadt und den damit verbundenen Religionsverfolgungen, sodass er vielen Tragödien seiner Zeit beiwohnte und in seinen Texten eindringlich die Schrecken des religiösen Krieges behandelt bzw eine tiefe Friedenssehnsucht sugge-
Erfahrun-riert „Für Gryphius ist die Deutung der menschlichen Situation der christliche
Stand-punkt […] für Gryphius betrifft die christliche Botschaft in ihrem Kern die Verderbtheit unseres Wesens, der die Verheißung der Erlösung die Waage hält“ (Browning 1980:
96) Die letzte Zeile lässt sich wie oben erwähnt als „Memento mori“ bzw als Kritik
an den Menschen lesen, die sich mit der Ewigkeit nicht beschäftigen wollen, jedoch auch als Ausdruck einer trotzigen Lebensfreude lesen, was zu dem Buch Kohelet passt,
das in der Überschrift anzitiert wird: „Das Buch Kohelet gehört zu den fünf Megillot;
es ist die Festrolle für das Laubhüttenfest, in dem die Freude am Leben und an der Tora als rechter Weisung zum Ausdruck kommen Diese Lebensfreude spricht auch aus wich- tigen Passagen des Predigerbuches“ 17
Formale Merkmale
Du siehst, wohin du siehst, / nur Eitelkeit auf Erden
Was dieser heute baut, / reißt jener morgen ein:
Wo jetzt noch Städte stehn, / wird eine Wiese sein,
Auf der ein Schäferskind / wird spielen mit den Herden
Was jetzt noch prächtig blüht, / soll bald zertreten werden
Was jetzt so pocht und trotzt, / ist morgen Asch’ und Bein,
Nichts ist, das ewig sei, / kein Erz, kein Marmorstein
Jetzt lacht das Glück uns an, / bald donnern die Beschwerden
Der hohen Taten Ruhm / muss wie ein Traum vergehn
Soll denn das Spiel der Zeit, / der leichte Mensch, bestehn?
Ach! Was ist alles dies, / was wir für köstlich achten,
¨ 2 Quartette und 2 Terzette
¨ Antithese
17 vgl Deutsche Bibelgesellschaft (2019): Prediger Salomo / Kohelet, [online] schaft.de/bibelkunde/altes-testament/ketubimschriften/predigerkohelet/ [19.12.2019].