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ATENEO PONTIFICIO REGINA APOSTOLORUM Facoltà di Filosofia Die Lehre von der natura communis in Duns Scotus’ Ordinatio II, d 3, p 1, qq 1-6 Eine Textstudie Direttore: D Alain Contat Studente: Fr Vincenz Heereman LC Matricola: 6603 Dissertazione per la Licenza di Filosofia Roma, 11 febbraio 2015 INHALTSVERZEICHNIS Einleitung Kapitel: Der ideengeschichtliche Ort des Problems 1.1 Der Universalienstreit 1.2 Das Erbe des Avicenna 19 Kapitel: Die Behandlung des Problems in der Ordinatio 26 2.1 Textinventar 27 2.1.1 Ordinatio II, d 3, p 1, q 27 2.1.2 Ordinatio II, d 3, p 1, q 38 2.1.3 Ordinatio II, d 3, p 1, q 41 2.1.4 Ordinatio II, d 3, p 1, q 43 2.1.5 Ordinatio II, d 3, p 1, q 46 2.1.6 Ordinatio II, d 3, p 1, q 46 2.2 Zusammenfassung 55 2.2.1 Auflistung der Aussagen geordnet nach Themen 55 2.2.1.1 Die Natur in sich 56 2.2.1.2 Die Natur im Ding 57 2.2.1.3 Die Natur im Verstand 59 2.2.1.4 Das Individuum 59 2.2.1.5 Das Individuationsprinzip 60 2.2.1.6 Die Einheit der Natur 62 2.2.2 Schematische Zusammenfassung 62 Kapitel: Synthetische Darstellung der Lehre von der natura communis 66 3.1 Natura communis im Blick auf Universalienstreit und Individuationsprinzip 67 3.1.1 Argumentation 67 3.1.2 Scotus zum Problem der Universalien und dem Individuationsprinzip 68 3.2 Die Natur in sich 71 3.2.1 Negativ betrachtet 72 3.2.2 Positiv betrachtet 74 3.2.2.1 Die Indifferenz der Natur 80 3.2.2.2 Die communitas der Natur 81 3.2.2.3 Die Einheit der Natur 83 3.3 Die Natur im Ding 84 3.3.1 Die Natur im Individuum 84 3.3.2 Das Individuationsprinzip 87 3.4 Die Natur im Verstand 91 Schluss 95 Quellenverzeichnis 102 EINLEITUNG Es ist durchaus nicht übertrieben, das 20 Jahrhundert als ein fruchtbares Zeitalter der Scotus-Forschung zu bezeichnen Vieles gibt zu einer solchen Behauptung Anlass Obschon der schottische Meister nie ganz in Vergessenheit geraten ist, so war seine explizite Gefolgschaft über die Jahrhunderte zu einem Nischenphänomen geworden, das wenig über die Grenzen des franziskanischen Universums auszustrahlen vermochte Symptomatisch für diese relative Verdunkelung seines Andenkens, war die noch zu Anfang des Jahrhunderts herrschende Unklarheit hinsichtlich der Quellen Die große Wadding-Ausgabe von 1639, von Vivès zwischen 1891 und 1895 neu gedruckt, blieb die einzige und unwegsame Grundlage für Forscher, die dort einer Vielzahl von Texten ungeklärter Authentizität ausgesetzt waren Diese Tatsache erschwerte das Forschen erheblich und konnte das Bild der reinen Lehre des Scotus nur allzu leicht trüben So war es ein Meilenstein von gewaltiger Bedeutung, als im Jahr 1950 die ersten zwei Bände der Editio Vaticana, der kritischen Ausgabe der Werke des Johannes Duns Scotus erschienen1 Man könnte sagen, dass das Werk eines Denkers dann von bleibendem Wert ist, wenn die von ihm bedachten Probleme nach ihm nicht mehr auf die gleiche Weise wie vor ihm behandelt werden können, wenn er nicht nur einen neuen Lösungsansatz vorgeschlagen, sondern die Fragestellung selber nachhaltig Vgl C BALIĆ, „Note per la storia della sezione e poi commissione scotista per l’edizione critica delle opere di Giovanni Duns Scoto“, in R.S ALMAGNO – C.L HARKINS (Hg.), Studies Honoring Ignatius Charles Brady Friar Minor, The Franciscan Institute, St Bonaventure NY 1978, 17–44 Bis zum Jahr 2013 wurden in der Editio Vaticana vierzehn Bände der Ordinatio sowie sechs Bände der Lectura veröffentlicht Zwischen 1997 und 2006 veröffentlichte The Franciscan Institute in St Bonaventure NY fünf Bände der Opera Philosophica Weitere Werke oder Fragmente wurden anderswo kritisch herausgegeben Für eine regelmäßig aktualisierte Übersicht der ScotusBibliographie (Ausgaben seiner Werke, Übersetzungen, Dissertationen, Monographien, Artikel und Beiträge) siehe T HOFFMANN, Duns Scotus Bibliography from 1950 to the Present, Ausgabe, 2013, in http://faculty.cua.edu/hoffmann/scotus-bibliography.htm [09-08-2014] Es handelt sich hier um eine Fortsetzung des Werkes von O SCHÄFER, Bibliographia de vita, operibus et doctrina Iohannis Duns Scoti, doctoris subtilis ac Mariani, saec XIX–XX, Herder, Rom 1955 verändert hat Das trifft ohne jeden Zweifel auf Duns Scotus zu2 So nimmt es nicht wunder, dass auch das 20 Jahrhundert bei ihm auf die Suche nach Antworten zu den immerwährenden Problemen des Denkens gegangen ist, so zum Beispiel das Problem der Indiviualität und des freien Willens Doch stellt sich die Frage, wie das Interesse an Duns Scotus gerade in dieser Zeit derart aufblühen konnte, wo doch die katholische Welt nach der Enzyklika Aeterni Patris, 1879 von Papst Leo XIII veröffentlicht, sich wieder mit neuem Eifer dem Aquinaten zuwandte Tatsächlich liegt hier eine interessante Wechselwirkung vor, denn je mehr die philosophiehistorische Forschung den echten Thomas zutage förderte, desto deutlicher wurde sichtbar, wie wenig von seinen grundlegenden Einsichten ihn selber überlebt hatte In anderen Worten, es zeigte sich, wie viel Wasser aus anderen Quellen der breite Strom des Thomismus der Jahrhunderte mit sich führte Unter diesen Einflüssen bewies sich der von Scotus ausgehende bald als einer der bedeutendsten Selbst, wo man sich redliche Mühe gab, Thomas zu folgen, gab nicht selten scotisches Denken den Ton an Häufig hielt man materialiter am Aquinaten und dem Wortlaut seiner Lehre fest, hatte jedoch formaliter einen scotischen Blick auf das Ganze entwickelt So lassen sich in der Scotus-Literatur des letzten Jahrhunderst zwei Stränge unterscheiden, die sich mit „für -“ und „gegen Scotus“ nicht hinlänglich charakterisieren lassen Da ist zunächst eine beachtliche Anzahl von Forschern, die sich bemühen, das Denken des Scotus aus seinen Quellen zu rekonstruieren und so nah wie möglich an ein System heranzuführen Sie untersuchen seine Entwicklung, zeigen die Originalität seiner Fragen, die Stringenz seiner Beweisführungen, die Kohärenz seiner Positionen und gehen seinen Spuren in den Entwicklungen der Ideengeschichte nach Balic, Bérubé, Bettoni, Boulnois, Cross, Hoeres, Honnefelder, Ingham, Lauriola, Longpré, Noone und Sondag sind nur einige Namen aus der langen Liste namhafter Persönlichkeiten Davon lässt sich Vgl L HONNEFELDER, Johannes Duns Scotus Denker auf der Schwelle vom mittelalterlichen zum neuzeitlichen Denken, Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und Künste, Schöningh, Paderborn 2011, 35 Vgl auch DERS., „Wie ist Metaphysik möglich? Ansatz und Methode der Metaphysik bei Johannes Duns Scotus“, in A SILEO (Hg.), Via Scoti Methodologica ad mentem Joannis Duns Scoti Atti del Congresso Scotistico Internazionale Roma 9-11 Marzo 1993, I, Antonianum, Rom 1995, 77 ein anderer Strang der Scotus-Forschung unterscheiden, der dem ersten zahlenmäßig nicht gewachsen ist, ihm jedoch häufig als Gesprächspartner dient3 Hier sehen Forscher wie Gilson, de Muralt und Siewerth in Scotus ebenfalls einen Vorboten der Moderne, richten ihr Augenmerk jedoch besonders auf den Umbruch, den sie bei Scotus sehen: der Beginn einer Philosophie, in deren Mittelpunkt nicht mehr das Sein sondern das Wesen steht – eine radikal anders grundgelegte Art des Denkens, in sich schlüssig und kohärent, Lösungen für zahlreiche Probleme anbietend Nach ihrem Dafürhalten werden hier die Weichen gestellt für ein Denken, das sich von der Realität und ihrem göttlichen Urgrund, zu denen sich das scotische Denken noch in unmittelbarer Nähe befindet, mehr und mehr entfremdet Die vorliegende Arbeit will für keine der beiden Interpretationsstränge Partei ergreifen Ebensowenig will sie sich anmaßen, einen dritten Weg aufzuzeigen, sich damit zu einer Warte aufschwingend, der sich oberhalb der genannten Forscher befände, welche der Verfasser dieser Zeilen in keinster Weise wagen würde zu belehren und deren Arbeiten er sein noch im Anfang begriffenes Verstehen des Duns Scotus verdankt Diese Arbeit entspringt vielmehr dem Wunsch, den schottischen Meister selbst reden zu lassen und seinem schwierigen Text, durch aufmerksames Hören auf seine Sprache und gründliches Zerlegen seiner Begriffe, ein lebendiges Bild seines Denkens abzugewinnen Es handelt sich also im Wesentlichen um eine Textstudie, eine detaillierte Untersuchung einer Abhandlung zum Thema der Individuation Es ist jedoch nicht die Hauptmelodie aus diesem Satz des scotischen Opus (nämlich die Individuation), der wir unsere Aufmerksamkeit widmen, sondern Die weiter oben genannten Forscher verweisen regelmäßig und anerkennend auf das grundlegende Werk von Gilson (E GILSON, Jean Duns Scot Introduction ses positions fondamentales, Vrin, Paris 1952), jedoch fast immer, um ihn im nächsten Atemzug als zu einseitig zu bezeichnen und unfähig, den eigentlichen Fortschritt festzustellen, der mit Scotus erreicht wird So z.B J CRUZ CRUZ, „Prólogo a la edición espola“, in E GILSON, Juan Duns Escoto Introducción a sus posiciones fundamentales, EUNSA, Pamplona 2007, 15 Vgl auch J.A MERINO, Juan Duns Escoto Introducción a su pensamiento filosófico-teológico, BAC, Madrid 2007, XXII vielmehr der Basso continuo, der sie gleichsam begleitet, bedingt und ermöglicht4: die natura communis So zielt unsere Arbeit darauf ab, ein Bild von der natura communis zu zeichnen, die ein grundlegender, von Scotus nicht für sich behandelter Baustein seines Denkens ist Es wird unsere Bemühung sein, praecise (im technischen Sinn, d.h unter Ausschluss all dessen, was nicht Objekt der Studie ist) und symphonisch zugleich auf den Text des Scotus zu hören Der Basso continuo ist ohne die Melodie nicht zu begreifen und er lässt sich nicht aus der allgemeinen Harmonie sowie den anderen Themen des Werkes vollends herauslösen Auch an scheinbar bedeutungslosen Kleinigkeiten, wie der mitunter zögerlich anmutenden wechselnden Wortwahl des Schotten, wird sein unverwechselbarer Stil und die schwer zu greifende Weite seines Denkens sichtbar Es geht hier also nicht darum, über die Schulen der Scotusinterpretation zu Gericht zu sitzen, ebensowenig wie neue Einsichten zu vermitteln Vielmehr soll die mühsame und zugleich seltsam befriedigende Arbeit (und bei Scotus darf einmal von Knochenarbeit die Rede sein) gezeigt werden, die jeder Interpretation voraufgeht und von der uns die bereits erwähnten Forscher meist nur die Ergebnisse mitteilen Das ist auch der Grund, warum hier ohne Scheu ein Thema aufgegriffen wird, das in der Scotus-Forschung keineswegs unbeachtet geblieben ist5 Eine regelrechte Textstudie wie die vorliegende, gibt es jedoch u.W noch nicht Die untersuchten Absätze wurden hier ins Deutsche übertragen Dabei wurde, so gut es geht, darauf verzichtet, den Text auf Kosten seiner Eigentümlichkeit zu vereinfachen und zu glätten Der übersetzte Text soll nach Scotus schmecken Da jedoch die deutsche Sprache nicht immer die Klarheit der lateinischen erlaubt, wird der Originaltext stets in den Fnoten angegeben Eine Zu Mưglichkeit und Interesse eines solchen Unterfangens vgl die Rechtfertigung seiner Arbeit in M SYLWANOWICZ, Contingent Causality and the Foundations of Duns Scotus’ Metaphysics, Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 51, Brill, Leiden 1996, 2-8 Jedes einleitende Werk zu Duns Scotus enthält einen Abschnitt über die gemeinsamen Naturen und die Individuation Zahlreiche Artikel bearbeiten das Thema Eine Monographie von J Kraus (J KRAUS, Die Lehre des Johannes Duns Scotus von der Natura Communis, Studia Friburgensia, Fribourg 1927) obschon vor der Veröffentlichung der kritischen Ausgabe erschienen, enthält immer noch zahlreiche gültige Elemente schematische Zusammenfassung, in der alle Aussagen in ihren verschiedenen Varianten und Schattierungen (in lateinischer Sprache) zusammengetragen werden, gewährt dem Leser einen synthetischen Blick auf das Studienobjekt in grưßtmưglicher Nähe zum scotischen Urtext Bleibt nur noch zu fragen, warum wir die natura communis zum Gegenstand unserer Untersuchung gemacht haben Zunächst gewährt die Nämliche einen interessanten Blick von Scotus ad extra: An ihr lässt sich insbesondere seine avicennische Gefolgschaft ablesen, sowie seine Stellungnahme zum Universalienstreit Noch interessanter ist jedoch die Vernetzung der natura communis in andere Sektoren seiner Lehre, also ein Blick ad intra Die Beschaffenheit der natura communis steht in enger Verbindung mit den Grundlagen der Metaphysik und der Bestimmung ihres Gegenstandes, dem ens inquantum ens Auch die Erkenntnislehre, mit dem für Scotus charakteristischen esse objectivum, steht in wechselseitiger Abhängigkeit mit der Lehre der natura communis Darüberhinaus ergeben sich interessante Entsprechungen hinsichtlich ihrer Exemplarursachen, den göttlichen Ideen, wie auch ihrer Wirkursache, dem schöpferischen Wirken Gottes Dieses alles zu beleuchten, würde weit mehr Platz in Anspruch nehmen als welcher uns hier zur Verfügung steht Lediglich ein Ausblick auf die hier angerissenen Verbindungen soll am Schluss gegeben werden Jedes einzelne dieser korrelierten Themen würde eine eigene Textstudie verdienen Das erste Kapitel skizziert mit unvermeidlich groben Zügen den ideengeschichtlichen Ort unseres Themas Im zweiten Kapitel wird der ausgewählte Text einer systematischen Untersuchung unterzogen Das dritte Kapitel trägt die gewonnenen Einsichten zu einer synthetischen Darstellung der Lehre der natura communis zusammen KAPITEL DER IDEENGESCHICHTLICHE ORT DES PROBLEMS 1.1 Der Universalienstreit Das Problem der Natur, ihrer Realität und Kommunität stellt sich für Johannes Duns Scotus im Kontext des Universalienstreits, der unter den Gelehrten seiner Zeit mit besonderer Vehemenz ausgetragen wird Seit der Ideenlehre des Platon und ihrer Widerlegung durch Aristoteles durchzieht dieser Streit die Geschichte des Denkens in der westlichen Welt An dieser Stelle soll der Verlauf dieser Auseinandersetzung nur angedeutet werden, um ein besseres Verstehen der scotischen Stellungnahme zu ermöglichen6 Das denkerische Unternehmen des Platon setzt zu einem Zeitpunkt ein, an dem das vorsokratische Suchen nach dem Verhältnis zwischen Einheit und Vielheit in einer aporetischen Sackgasse angelangt ist Entweder es gibt nur das eine Sein und jede Vielheit ist Schein und Täuschung (Parmenides) oder es gibt nur das Werden, die ständig in einander übergehende Vielheit der Gegensätze (Heraklit) Von Sokrates zu einem Neuanfang des Denkens angestoßen, bemüht sich Platon, die gegebene Multiplizität ontologisch und gnoseologisch zu einem einzigen Ursprung zurückzuführen7 Die Konfrontation mit Einheit und Vielheit spielt sich im Alltag des Menschen beispielsweise in jeder Aussage ab Von einer Vielheit von Einzeldingen sagen wir ein gemeinsames Wesen aus „Das hier ist ein Pferd, ebenso dieses und dieses.“ Wenn wir von mehreren Einzeldingen aussagen, dass sie Pferde sind, dann weil sie die Natur des Pferdes gemeinsam haben (κοινονία) Platon postuliert daraufhin die von den Einzeldingen der Für eine gründliche Abhandlung siehe A DE LIBERA, La querelle des universaux De Platon la fin du Moyen Age, Seuil, Paris 1996 Vgl u.A PLATON, Phaidon, 100b-c Erfahrungswelt getrennte Existenz eines reinen Wesens, der Idee des Pferdes, an der die Einzeldinge teilhaben (µέθεξις) Im Licht dieses reinen Wesens des Pferdes ist uns auch das Erkennen des einzelnen Pferdes ermöglicht Der universale Begriff „Pferd“, der auf dieses und jenes einzelne Pferd angewandt werden kann, ist also die Spiegelung im menschlichen Verstand jener von der Materie getrennten, reinen Idee des Pferdes, die das Einzelding durch Teilhabe unvollkommen nachahmt (µίµησις) Die Kritik des Aristoteles greift Platons Theorie an ihrer schwächsten Stelle an: dem Postulat Die Existenz der Ideen kann von Platon nur postuliert, nicht aber bewiesen werden Damit ist für Aristoteles nichts erklärt Wenn auch die Ideenleere die Vielheit der Dinge mit der Einheit des Wesens in Einklang bringt, so erklärt sie noch nicht das Werden der Dinge, verdoppelt ohne Notwendigkeit die Gegenstände und zieht einen unendlichen Regress nach sich8 Für Aristoteles ist in erster Linie das konkret existierende Einzelding real, die erste Substanz (πρωτή οὐσία)9 mit ihren Akzidenzien Die washeitliche Bestimmung dieser aktuellen Substanz gründet in ihrem Wesenswas (τὸ τί ἦν εἶναι10), aufgrund derer ein Ding Pferd und nicht Mensch ist Ebenso hat jedes Akzidens, das der Substanz inhäriert, ein Wesenswas, durch das es bestimmt ist Im Abstraktionsprozess vereint sich der menschliche Verstand intentional mit diesem Wesenwas (der Substanz wie auch des Akzidens), indem er seine Aktualität in sich aufnimmt So entsteht der universale Begriff, die intentionale Präsenz des Wesenswas einer Substanz oder eines Akzidens im Verstand Im Fall der Substanz nennt Aristoteles den so entstandenen Begriff zweite Substanz (δεύτερα οὐσία), die Gattung oder Art des Dinges sein kann11 Das Universale im Ding hat also Wirklichkeit in Vgl ARISTOTELES, Metaphysik, A, (990a-993a); ebd., M, 4-5 (1078b-1080a) ARISTOTELES, Kategorien, Kap (2a13-16), in Philosophische Schriften, I, E Rolfes (Übers.), Meiner, Hamburg 1995, 3: „Substanz im eigentlichsten und vorzüglichsten Sinne ist die, die weder von einem Subjekt ausgesagt wird, noch in einem Subjekt ist, wie z.B ein bestimmter Mensch oder ein bestimmtes Pferd.“ 10 Vgl ARISTOTELES, Metaphysik, Z, (1029b) 11 ARISTOTELES, Kategorien, Kap (2a15-19), in Philosophische Schriften, I, 3: „Zweite Substanzen heißen die Arten, zu denen die Substanzen im ersten Sinne gehören, sie und ihre Gattungen So gehört z B ein bestimmter Mensch zu der Art Mensch, und die Gattung der Art ist das Sinnenwesen Sie also heißen Substanzen, Mensch z B und Sinnenwesen.“ 93 Verstand nicht die gleiche sein wie die des Individuums184, sonst wäre absurderweise die Reihe der Individuen aus der Erfahrungswelt unverändert in den Köpfen der denkenden Subjekte fortgesetzt Ihre Einheit wird auf zwei Wegen beschrieben Sie ist zunächst eine indifferente Einheit, hier nicht im Sinn der Natur im Allgemeinen (Indifferenz gegenüber der Singularität als solchen sowie jeder bestimmten Singularität), sondern im Sinne einer Indifferenz, die es ihr in nächster Potenz erlaubt, von jedwedem Suppositum ausgesagt werden zu können185 Da es jedoch ein einzelner Begriff ist, der da von vielen Individuen ausgesagt wird, ist Scotus bereit, die ihm eigene Einheit auch numerisch zu nennen, ganz wie die des Individuums, nur in dem besagten Sinn, dass dieses in sich eine Konzept, das von jedem anderen verschieden ist, von mehreren prädiziert wird186 So handelt es sich natürlich nicht einfach nur um ein weiteres Individuum, das sich, statt in der Außenwelt, im Verstand des Menschen befinden würde Eine letzte Überlegung: Die Einheit des Individuums (numerische Einheit) zieht die Unteilbarkeit in weitere Individuen nach sich Die geringere Einheit der Natur an sich bedeutet die Unteilbarkeit der Washeit in weitere untergeordnete Essenzen Was gilt für die Einheit der Natur im Verstand? Zum einen bedeutet ihre Einheit die Identität des Begriffes mit sich selbst und seine Unteilbarkeit in andere Begriffe Zum anderen erlaubt gerade diese Einheit dem Begriff, in 184 Vgl Ord II, d 3, p 1, q 1, n 40, ed Vat VII, 408: „Dupliciter ergo patet quomodo auctoritas non est contra me: primo, quia loquitur de unitate singularitatis in divinis, – et hoc modo non solum ‚universale creatum‘ non est unum, sed nec ‚commune‘, in creaturis…“ In der Auseinandersetzung mit Johannes Damaszenus besagt Scotus, dass das geschaffene Universale (also der Begriff im Verstand) nicht eins ist mit der Einheit der Singularität wie die gemeinsame Natur der göttlichen Personen Diese Einheit der Singularität lässt sich ebenfalls von Individuen aussagen 185 Vgl Ord II, d 3, p 1, q 1, n 37, ed Vat VII, 406f.: „Universale in actu est illud quod habet aliquam unitatem indifferentem, secundum quam ipsum idem est in potentia proxima ut dicatur de quolibet supposito.“ Vgl auch ebd., n 38 (407f.) 186 Ebd.: „Hoc enim solum est possibile de obiecto eodem numero, actu considerato ab intellectu, – quod quidem ‚ut intellectum‘ habet unitatem etiam numeralem obiecti, secundum quam ipsum idem est praedicabile de omni singulari, dicendo quod ‚hoc est hoc‘.“ 94 subjektive Teile geteilt werden zu können, sprich mehrere Individuen, von denen jedes diesem Begriff entspricht187 187 Vgl Ord II, d 3, p 1, q 2, n 48, ed Vat VII, 412: „Est ergo intellectus quaestionum de hac materia, quid sit in hoc lapide, per quod ‘sicut per fundamentum proximum’ simpliciter repugnat ei dividi in plura quorum quodlibet sit ipsum, qualis ‘divisio’ est propria toti universali in suas partes subiectivas.” Das Lateinische dividi in plura quorum quodlibet sit ipsum ist schwer ins Deutsche zu übetragen Damit gemeint ist, dass bspw der Begriff „Mensch“ in eine Vielzahl geteilt werden kann, von der jedes einzelne Individuum eben „Mensch“ ist Auf schwer übersetzbare Weise wird dadurch die reale Identität zwischen dem Prädikat und allen seinen möglichen Subjekten zum Ausdruck gebracht 95 SCHLUSS Die hinter uns liegende Textstudie hat uns gestattet, mit einiger Genauigkeit die Lehre von der natura communis nachzuzeichnen, so, wie sie in einem der letzten Werke des jung verstorbenen Franziskaners sichtbar wird Sie hat uns zugleich in die Gedankenwelt des Scotus eingeführt, uns mit seiner Sprache und darüber hinaus mit seiner Denkart vertraut gemacht Ein besonderer Charakterzug dieser Denkart soll hier noch einmal hervorgehoben werden Wir wollen es ein „Denken in der Form des tantum“ nennen Wie Avicenna, der, wenn er das Wesen des Pferdes denkt, nur das Wesen des Pferdes denkt, so richtet Scotus seinen denkenden Blick so lange auf einen Gegenstand, bis er ihn aller Fremdkörper entledigt hat, so dass nur er dasteht, in der grưßtmưglichen konzeptuellen Reinheit, von allen anderen noch so nahen und verwandten Elementen losgelöst Hier befinden wir uns vor der Eigenschaft, die dem Schotten den Ruf der Scharfsinnigkeit eingetragen hat, dem Ursprung all jener Unterscheidungen, die es den unvorbereiteten Leser leicht schwindelig werden lassen Das ist keineswegs nur Freude am scholastischen Disput und an unfruchtbaren Distinktionen, es ist vielmehr die logische Folge einer bewussten Hinwendung zum Denken als einzigen und notwendigen Zugang zum Sein Natürlich interessiert Scotus in erster Linie das real existierende Pferd – schließlich richtet sich die Vorsehung auf die konkreten Individuen188 – doch weiß er, dass zwischen ihm und dem Pferd sein sinnliches und begriffliches Erkennen steht Daher ist sein Ausgangspunkt das gedachte Pferd, vielseitig wie ein Diamant, an dem eine Seite nur sie selber und nicht die andere ist Scotus nimmt jeweils eine davon ins Visier und unterscheidet sie von allem was nicht sie ist, bis nur sie dasteht Eine distinctio rationis ist da nicht ausreichend, der Verstand unterscheidet ja nicht spontan und willkürlich wie man einer und derselben Sache verschiedene Namen geben kann Vielmehr ist es sein Gegenstand, der Begriff, der das Ding repräsentiert, der verschiedene Inhalte aufweist, die der Verstand als von einander verschieden erkennt So ist das eine eben formell nicht das andere Wenn Scotus also das Pferd 188 Vgl Rep Par I, d 36, q 4, n 25: „Quando enim dicit quod individuum non est de intentione naturae, et tamen providentia divina est primo circa individua, videtur esse contradictio.” zitiert in E GILSON, Juan Duns Escoto, 303 Anm 52 96 denkt, dann erscheint ihm seine Pferdlichkeit nur für sich, als von ihrer Individualität im Ding, von ihrer Universalität im Begriff und sogar von ihrer ihr eigenen Einheit als Wesenheit verschieden Es bleibt am Ende nur die Pferdlichkeit Dieses „Denken in der Form des tantum“ finden wir bei Scotus überall wieder, so z.B bei der Bestimmung des ens inquantum ens als Gegenstand der Metaphysik189 Die Möglichkeit einer Wissenschaft, so wie sie von Aristoteles definiert wird, ist bedingt durch die Existenz eines Gegenstandes dieser Wissenschaft, der den gesamten Bereich derselben unter sich sammelt Will die prima philosophia, die Metaphysik, den Bereich alles Realen, den Bereich des Seienden umfassen, so muss ihr Gegenstand univok von allem ausgesagt werden können, was unter ihn fällt190 Der Gegenstand der Metaphysik, der auch das erste adäquate Objekt unseres Verstandes ist, muss sowohl von Gott als auch von all dem ausgesagt werden können, was kein reines Nichts ist Damit stellt Scotus bereits die Weichen für das Ergebnis seiner Untersuchung Er sucht nach einem Begriff, also im Bereich des Denkens, der diesen Anforderungen entsprechen kann Und auch hier folgt er einem Prozess der progressiven Entkleidung, wenn man so sagen darf, bis er zum ens indifferenter sumptum gelangt Nach Ausschluss der realen Existenz, von deren Kontingenz der Gegenstand der Metaphysik frei bleiben muss, und Zersetzung aller zusammengesetzten Begriffe, gelangt Scotus zu einem schlechtin einfachen Begriff191, den wir versucht sind, ens tantum zu nennen Es ist das schlechthin bestimmbare Seiende, das Ur-quid, das mit verschiedenen quale-Determinationen in Verbindung tritt, um von ihnen bestimmt zu werden Der Weg dorthin führt wieder über die Analyse des Denkens Das ens kann gedacht werden, ohne zu wissen, ob es existiert oder nicht, also ist es von der Existenz verschieden Es kann gedacht werden, ohne zu 189 Nebenbei erwähnt, aber nicht erläutert, wird die Beziehung zwischen dem ens und der natura communis in L IAMMARRONE, Giovanni Duns Scoto: Metafisico e Teologo Le tematiche fondamentali della sua filosofia e teologia, Miscellanea Franciscana, Rom 1999, 78 190 Vgl P KING, „Scotus on Metaphysics“, in TH WILLIAMS (Hg.), The Cambridge Companion…, 17f 191 Vgl E GILSON, „Sur la composition de l'être fini“, in De doctrina Ioannis…, II, 194ff 97 wissen, ob es endlich oder unendlich ist, sprich göttlich oder geschöpflich, ist, also ist es von seinem Modus verschieden Auf diesem Wege führt uns Scotus zu einem ens, dessen ganze Dichte und Selbststand, seine ratitudo, darin besteht, dass es sein kann (cui non repugnat esse)192 Es darf nicht überraschen, dass für Scotus ens und res ein und dasselbe bedeuten Sein Begriff des ens, von Anfang an als Begriff gesucht und über das Denken gewonnen, liegt in der Linie dessen, was dem abstraktiven Denken zugänglich ist, nämlich in der Linie des Wesens Dieser Begriff des Seienden beschreibt ein nacktes quid, völlig unbestimmt und einzig Möglichkeit aussagend193 Hier wird sichtbar, dass natura communis und ens auf demselben Weg des unterscheidenden Betrachtens gewonnen werden, auf dem die natura communis eine frühere Station, das ens inquantum ens die Endstation bedeutet Die Metaphysik, als Wissenschaft des ens inquantum ens, beschäftigt sich für Scotus nicht mit der Aktualität der Formen, sondern mit den Formen, die Aktualität besitzten können, nicht mit dem id quod est, wo das Interesse dem est, also der Aktualität, gilt, sondern mit dem id quod esse potest, wo das id quod, das Wesen, im Vordergrund steht194 Mit Lackner können wir sagen, dass die Metaphysik des Scotus eine Wesenswissenschaft ist195 Werfen wir von der natura communis einen Blick auf den Kognitionsprozess, so wie Scotus ihn versteht Die natura communis ist das quod quid est, das im Verstand zu einem Begriff wird, dem dort die Universalität eignet, welche, für sich betrachtet, wiederum erst Gegenstand einer zweiten Intention darstellt Wie gelangt diese quiditas in den Verstand? Zunächst folgen wir mit Aristoteles dem Weg über die äußeren und inneren Sinne hin zu der species sensibilis, die jedoch, weil materiell, nicht auf den rein geistigen Verstand wirken kann Vielmehr bringt der Verstand (in dem Scotus zwischen intellectus agens und intellectus possibilis nur eine distinctio rationis gelten lassen will) in Gegenwart der species sensibilis die species intelligibilis hervor, deren Form er 192 Vgl L HONNEFELDER, „Die Lehre von “, 661-671 Vgl A.B WOLTER, The Transcendentals and…, 68f 194 Vgl W KLUXEN, „Bedeutung und Funktion der Allgemeinbegriffe in thomistischem und skotistischem Denken“, in De doctrina Ioannis…, II, 240 195 Vgl F LACKNER, „Johannes Duns Scotus und die Wirklichkeit am Rande des Denkbaren“, in M CARBAJO NÚÑEZ (Hg.), Giovanni Duns Scoto, I, 193 98 virtuell bereits in sich beinhaltet Daraufhin befindet sich der Verstand in der Gegenwart des Objektes196, nicht des Dinges an sich, das ja pro statu isto ob seiner Materialität einer Mittlung bedarf, sondern seiner Darstellung in der species intelligibilis Und wieder denkt Scotus „in der Form des tantum“, und das in zwei Instanzen: zuerst indem er die intelligible Repräsentation des Dinges zum unmittelbaren Objekt des Intellektes macht Das Gedachte als Gedachtes ist erst einmal nur Gedachtes, eine dem Verstand gegenwärtige Wesenheit; sie ist dem Ding, das sie repräsentiert, ähnlich, aber von ihr verschieden Und hier finden wir die zweite Instanz des „tantum-Denkens“: So wie die Wesenheit im konkreten Pferd nur die Wesenheit des Pferdes ist, so auch im Verstand, wo Scotus sie unterscheidet von dem esse intelligibile oder esse repraesentatum, das sie dort hat197 In anderen Worten: Im Begriff ist zu unterscheiden zwischen dem Inhalt (einer abstrahierten natura communis) und dem Träger des Inhaltes, dem realen Akzidens (Habitus) des Verstandes, in dem dieser Inhalt aufleuchtet198 Man würde Scotus Unrecht tun, würde man ihm anlasten, er sei Subjektivist und ließe den Kognitionsprozess gänzlich intra muros des Verstandes ablaufen Die Intentionalität des Verstandes richtet sich deutlich auf die res extra, nur ist die intelligible Zwischeninstanz, die diese Intentionalität vermittelt, von solcher Dichte, dass sie mehr id quod cognoscitur als id quo cognoscitur zu sein scheint Muss es einen noch wundern, dass manche Historiker in Scotus den Vorboten der Transzendentalität der Moderne sehen199? Zuletzt noch eine Annäherung an die Exemplarursache der natura communis: die göttlichen Ideen Wie zahlreiche Meister des Mittelalters, so setzt auch Duns Scotus bei Augustinus an, für den die göttlichen Ideen jene ewigen 196 Vgl O BOULNOIS, „La présence chez Duns Scot“, in A SILEO (Hg.), Via Scoti, I, 109-114 197 Vgl R PASNAU, „Cognition“, in TH WILLIAMS (Hg.), The Cambridge Companion…, 289 198 Vgl R CROSS, Duns Scotus on God, Ashgate, Hants 2005, 67 Vgl auch M CHABADA, „Epistemologisch-Ontologische Verankerung von objektiven Begriffen nach Johannes Duns Scotus“, in L HONNEFELDER – H MÖHLE – A SPEER – TH KOBUSCH – S BULLIDO DEL BARRIO (Hg.), Johannes Duns Scotus 1308-2008 , 242 199 Zum repräsentationistischen Charakter der Kognition bei Scotus und deren Folgen vgl O BOULNOIS, Être et représentation Une généalogie de la métaphysique moderne l'époque de Duns Scot (XIIIe-XIVe siècle), PUF, Paris 1999 99 rationes darstellen, gemäß welchen Gott die Dinge schafft Für Duns Scotus ist die göttliche Idee des Steins nichts anderes als der von Gott gedachte Stein, was bereits eine andere Färbung aufweist als noch bei Augustinus, wo die Idee im Bezug auf den Schöpfungsakt gesehen wurde Hier ist sie in erster Linie Gegenstand des göttlichen Verstandes Scotus hat es nicht leicht: Er muss an der absoluten Einfachheit Gottes festhalten, darf sich nicht der verurteilten These der Erschaffung der Ideen nähern, kann aber zugleich die Ideen in sich selbst nicht als ontologisches Nichts gelten lassen, wie es nach seinem Empfinden der Fall ist, wenn man sie nur durch eine distinctio rationis vom göttlichen Verstand unterscheidet Beobachten wir in groben Zügen seinen Gedankengang Gottes Erkennen seines eigenen Wesens fällt nicht in eins mit seinem Erkennen der möglichen Essenzen, bspw des Steines200 So müssen, für Scotus, zwei Momente unterschieden werden, in denen diese beiden verschiedenen Objekte erkannt werden Welchen Seinsgehalt haben nun die Gegenstände göttlichen Erkennens? Innerhalb der göttlichen Einfachheit kann Scotus kein esse reale zulassen, aber es erscheint doch deutlich, dass da ein etwas gedacht wird, das in sich kein reines Nichts sein kann Scotus spricht der göttlichen Idee ein esse cognitum zu (andere Bezeichnungen: esse in opinione, esse in intellectu, esse exemplatum, esse repraesentatum201), das weniger ist als reales Sein, aber mehr als nur esse rationis202 Der Grund dafür ist leicht einzusehen Sobald Gott die göttlichen Ideen im esse intelligibile hervorbringt, besteht eine Beziehung zwischen diesen und dem göttlichen Verstand Ist die Beziehung des Gekanntseins real, dann muss es auch in einer gewissen Weise ihre Grundlage sein Dieses esse, weiß Scotus, kann nur im einzigen esse Gottes begründet sein, aber von diesem esse ist noch einmal verschieden das, was die Idee zu dieser (talis) Idee macht Auch in der göttlichen Idee ist die Pferdlichkeit nur Pferdlichkeit, von ihrem esse cognitum als Idee verschieden, ebenso wie von der Beziehung der Imitation des göttlichen Wesens Scotus weigert sich diesbezüglich, die göttlichen Ideen wie Thomas von Aquin als mögliche Nachahmungsarten der göttlichen Essenz zu sehen Seiner uns 200 Vgl C SOLAGUREN, „Contingencia y creación en la filosofía de Duns Escoto“, in De doctrina Ioannis…, II, 317 201 Vgl R CROSS, Duns Scotus on God, 66 202 Ord I, d 36, q un., n 7; t 1, p 1174: „debilius esse reali et majus esse rationis“ zitiert in E GILSON, Juan Duns Escoto, 292 Anm 23 100 inzwischen vertrauten Denkweise treu, kann er nicht umhin, zuerst die Idee als Form stehen zu sehen, als nächstes ihr esse cognitum festzustellen, sie dann von Gott mit seiner eigenen unendlichen Essenz vergleichen zu lassen und erst dann die relatio rationis der Nachahmbarkeit gelten zu lassen So haben wir es bei den göttlichen Ideen zunächst nur mit möglichen Essenzen zu tun, für die Scotus einen Hochseilakt riskiert, um ihnen einen eigenen Seinsgrad einzuräumen, ohne sie zu Geschöpfen werden zu lassen Von all den möglichen Wesenheiten wählt Gottes freier Wille einige aus und erschafft sie – positio extra causas einer realen Essenz, in der, wie wir gesehen haben, alles was von einander verschieden gedacht werden kann, in irgendeiner Weise von einander verschieden ist So erscheint bei Scotus die Autonomie des esse obiectivum gegenüber dem esse reale, eine reine Gegenständlichkeit, die sich scharf von der realen wie von der gedachten Gegenständlichkeit abhebt Der Weg zum ens in diesem Zustand ist führt über eine Dialektik der Verneinung Das ist es, was Scotus zu einem Vorboten der Modernität macht Nicht selten wird Scotus auch dargestellt als der Denker, der als erster die Individualität in ihrer Grưße gewürdigt hat und ihrem Mysterium gerecht geworden ist Unsere Studie hatte dieses Thema freilich nur indirekt zum Gegenstand, doch dringt sich uns die Frage auf, ob dem wirklich so ist Sicherlich hat das scotische Denken, stets auf der Suche nach reinen Inhalten, die Individualität als etwas ontologisch und noetisch Irreduktibles herausgeschält Aber wie viel ist mit der „entifizierten“ Individualität wirklich gewonnen und erklärt? Scotus ruft eine entitas herbei, die das Allgemeine zum Individuellen machen soll, ohne es dabei zu verändern Damit nimmt die Individualität im konkret existierenden Ding ihren Sitz in diesem ontologischen Baustein, der sich den allgemeinen Elementen hinzufügt und ihnen zugleich völlig fremd bleibt Die menschliche Natur, gegenwärtig in Sokrates und Plato, ist sich in ihrer zweifachen Ausgabe als menschliche Natur völlig identisch Es wäre zu untersuchen, ob damit nicht eine gewisse Distanz zwischen dem Individuum und seiner Natur entsteht, die dem Individuum gegenüber gleichgültig und „auswechselbar“ bleibt, und mit der Distanz auch eine Entfremdung Sicher muss daran festgehalten werden, dass Sokrates und Plato beide ganz und gar Mensch sind, aber tut man 101 dem Individuum und seinem Reichtum nicht einen Abbruch, wenn Platos Menschsein Plato fremd bleibt und genausogut das Menschsein Sokrates‘ sein könnte? Dieser Frage wäre aufmerksam nachzugehen Wie beabsichtigt, hat die vorliegende Studie sich vorwiegend dem Wortlaut des Doctor subtilis gewidmet Aus dieser Arbeit ist ein recht genaues Bild der Lehre von der natura communis hervorgegangen An diesem Exempel ist sichtbar geworden, dass das unterscheidende Denken des Scotus von gewaltiger spekulativer Kraft und rigoroser Präzision ist Sein Gedankengebäude erscheint kompakt und kohärent, „terribilis ut castrorum acies ordinata“ (Hld 6,3), keinem Problem aus dem Weg gehend, mutig und in vollem Bewusstsein neue Wege beschreitend Es wundert nicht, dass man im ihm einen Neuerer der Philosophie und der Theologie, ja sogar einen Epochenwechel gesehen hat Fest steht, dass sein Denken zutiefst originell ist Eine Ursache dieser Originalität glauben wir darin gefunden zu haben, dass Scotus stets bemüht ist, den gedanklichen Inhalt in aller Reinheit herauszustellen Das ist es, was wir das „Denken in der Form des tantum“ genannt haben 102 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