Was sind also die handlungstheoretischen Voraussetzungen dafür, dass eine Konzeption als
„Tugendethik“ gekennzeichnet werden kann? Merkmal einer Tugendethik ist, den nicht- vernỹnftigen Strebungen moralisches Eigengewicht zuschreiben zu kửnnen, indem die habituelle Formung der menschlichen Strebungen nicht nur als notwendige Voraussetzung für die Umsetzung des rechten Wollens begriffen werden. Die tugendhafte Strebebewegung ist vielmehr auch und gerade auch eine Erfüllung des rechten Wollens, das in der Erlangung seines ihm angemessenen Objektes zur Ruhe kommt. Nicht nur das „Was“ einer Handlung, sondern auch das „Wie“ ist dadurch von moralischer Relevanz. Was für eine Auffassung von
„Wille“ muss aber einer solchen Konzeption zugrundeliegen?
Kontrastiert man dieses Merkmal der tugendethischen Konzeption zunọchst mit der gesetzesethischen Konzeption, so lọsst sich erkennen, welche handlungstheoretische Grundentscheidung die beiden Auffassungen unterscheidet: Ausgeschlossen ist in einer solchen tugendethischen Perspektive nọmlich, dass der Wille rein negativ zum guten Willen
168 Dass das Willensvermửgen als kausales Vermửgen mit den Voraussetzungen seiner Umsetzung in der handelnd zu verọndernden Wirklichkeit zusammengedacht werden muss, betont bereits Brock 1998 S. 139 ff., indem er die teleologische Verfasstheit des Willens bei Thomas mit der „reinen praktischen Vernunft“ Kants (den Zusatz „rein“ in Verbindung mit „praktisch“ verwendet Brock 1998, S. 139; vgl. dagegen aber Kants eigene ĩberlegungen zur Bezeichnung der praktischen Vernunft als „rein“ in der Vorrede zur Kritik der praktischen Vernunft) kontrastiert. Ob diese Darstellung der kantischen Konzeption praktischer Vernunft gerecht zu werden vermag, ist sehr zweifelhaft, vgl. für eine Kantinterpretation, die praktische Vernunft als Vernunft in der Wirklichkeit begreift, z.B. Zaczyk 1994, insb. S. 113, 114-119 und Zaczyk 1995, bes. 319 f.
bestimmt wird, indem er dann als „gut“ zu kennzeichnen ist, wenn er frei von fremden, ihn zwingenden Einflỹssen, nur sich selbst als guten Willen will und so sich selbst als Vermửgen eines vernỹnftigen Wesens zur hửchstmửglichen Entfaltung bringt. Denn dann kửnnen die Strebungen anderer Seelenteile nur als auòerhalb der Vernunft und damit die genannte negative Freiheit des Willens gefọhrdend angesehen werden. Der so bestimmte Wille ruht nicht in einem Objekt auòerhalb seiner selbst, sondern ist in hửchstem Maòe Wille, wenn er, sich selbst wollend, frei von fremden oder ọuòeren Einflỹssen ist. Grundkategorie des Moralischen ist für einen solchen Willen nicht das Gute, sondern die Pflicht, und zwar deshalb, weil er nicht als appetitives Vermửgen nach einem Gut auòerhalb seiner selbst strebt, das seine Bewegung auslửst, sondern weil sein grundlegender Akt der der Selbstbestimmung ist. Diesem grundlegenden Akt der Selbstbestimmung entspricht zwar als ein angemessenes Ziel des Willens das Ziel, guter Wille zu sein. Das Gutsein des Willens lọsst sich also auch in dieser Konzeption als moralisch wünschenswert darstellen. Aber das Gute ist hierbei gerade nicht auslửsendes Moment der Bewegung des so konzipierten Willens, sondern nur der Wille selbst kann als Grund seiner eigenen Bewegung gedacht werden.
Entscheidendes Merkmal für eine tugendethische Moralkonzeption ist hingegen, dass der Wille als appetitives Vermửgen aufgefasst wird169. Denn nur dann hat er passive Momente, die als solche moralisch relevant sein kửnnen. Nur fỹr den sich aus sich selbst herauswendenden Willen, der als appetitives Vermửgen in seinem Akt das Streben nach einem ihm ọuòerlichen Objekt verwirklicht, kann Quelle der Moralitọt primọr das ihm angemessene Objekt, also ein Gut sein, und nicht lediglich die negative Freiheit von ọuòeren Einflỹssen. Nur fỹr einen Willen, der selbst primọr Strebevermửgen ist, kann der Einfluss der menschlichen Strebungen und derer Objekte nicht als heteronomer Einfluss, sondern gerade als Erfỹllung seines Seinkửnnens begriffen werden. Und nur fỹr den appetitiv konzipierten Willen ist seine handelnde Verwirklichung in der kausal nach auòen wirkenden Handlung, die nur unter Mitwirkung anderer Vermửgen mửglich wird, ein Faktor, der seine Moralitọt direkt und primọr bestimmt, da das erstrebte Gut immer in einer Wendung nach auòen handelnd zu erstreben ist und erst seine Erreichung die Erfüllung der willentlichen Strebebewegung ermửglicht. Wọhrend bei der gesetzesethischen Konzeption die Bestimmung des Moralischen primọr so erfolgt, dass die Rechtheit des Wollens selbst unter Abstraktion von den Folgen seiner Umsetzung zu bestimmen ist, und erst nachtrọglich die Relevanz der
169 Thomas geht von einer Zweiteilung in erstrebenden (appetitiven) und erfassenden (apprehensiven) Seelenteil aus, vgl. STh I-II q. 22 a. 2, was von Aristoteles auf die zwei typischen Merkmale von Lebewesen zurỹckgefỹhrt wurde, durch die diese sich von Unbeseeltem und den Pflanzen unterscheiden, nọmlich Wahrnehmung und Fortbewegung, vgl. De an. I 2, 403b25-27; III 3, 427a16-19; III 9, 432a15-17.
Verwirklichung eines solchen Wollens in der Handlung nach auòen Berỹcksichtigung finden kann, ist in der tugendethischen Konzeption der Wille von vornherein ein nach auòen gerichtetes Vermửgen. Die Moralitọt ist daher ursprỹnglich von den Voraussetzungen des Handelns in der Welt und dem notwendigen Gebrauchmachen von allen menschlichen Vermửgen bestimmt. Das Zusammenwirken von Vernunft und Strebungen – sowohl vernünftigen als auch von Vernunft bestimmbaren, selbst aber nicht vernünftigen Strebungen – ist daher das eigentliche Thema der Moral. Das typische Merkmal einer tugendethischen Konzeption, die moralische Relevanz natürlicher Neigungen und Strebungen begrỹnden zu kửnnen, beruht also auf der Konzeption des Willens als appetitivem Vermửgen. Im Folgenden ist daher zunọchst nachzuzeichnen, wie Thomas den Willen als appetitives Vermửgen nọher kennzeichnet.
1. Die Unterscheidung zwischen apprehensiven und appetitiven Vermửgen170
Thomas họlt die Unterscheidung zwischen apprehensiven und appetitiven Vermửgen fỹr notwendig.171 Jedes individuelle Ding hat kraft seiner Form natürliche Neigungen, inclinationes, die seine Beziehungen nach auòen ordnen.172 Durch diese natỹrliche Hinordnung zu etwas anderem wird ein wichtiger Aspekt des Seienden hervorgehoben: Es wird nicht als Einzelnes, Beziehungsloses, sich selbst Genügendes, sondern gerade in seinem Zusammenhang mit anderen Seienden in den Blick genommen. In den natürlichen Neigungen und dem ihnen folgenden Naturstreben, dem appetitus naturalis, zeigt sich also die Welthaftigkeit des Seienden, und zwar als etwas, das das Seiende vom Wesen her bestimmt. Die Neigungen stellen die Relation einer Substanz zu etwas ihr Äuòerlichem her, das ihr angemessen ist: Der Neigung seitens des Dinges entspricht eine Eigenschaft des Gegenstandes, zu dem die Neigung besteht, und umgekehrt.173 Schon bei der Darstellung von Appetition bei unbeseelten Dingen fọllt auf, dass Thomas Appetition mit einer
170 Ausführlicher als hier Dewan 1980, der eingehend auf die Unterschiede der Darstellung des Problems in De veritate und Summa Theologiae hinweist, siehe auch Schlüter 1971, der besonders den der Unterscheidung zugrundeliegenden metaphysischen Hintergrund beleuchtet.
171 STh I q. 80 a. 1: „…necesse est ponere quandam potentiam animae appetitivam.“
172 STh I q. 80 a. 1: „...quamlibet formam sequitur aliqua inclinatio“, speziell im Zusammenhang mit dem Willen als rationalem Strebevermửgen siehe STh I-II q. 8 a. 1.
173 Beide Aspekte, den des Eingebundenseins in einen Weltzusammenhang sowie den der Natürlichkeit der Neigungen, die eine innere Eigenart des Geneigten darstellen, betont auch Schlüter 1971, S. 108.
Parallele174 zu Bewegung beschreibt. Wie es bei Bewegungen ein Bewegendes geben muss, das als Ziel der Bewegung zu denken ist und auf das das Bewegte gerichtet ist, so gibt es auch bei der Appetition einen Auslửser des Strebens, dem seitens des Strebenden eine Inklination entspricht. Das Gemeinsame von Bewegung und Streben ist also, dass es sich um Relationen handelt, das Bewegte bzw. Strebende sich also zu etwas anderem verhọlt.175 Bei der Appetition erfolgt eine Hinneigung zu etwas anderem, also nach auòen.
Bei Lebewesen liegt nun ein besonderer Fall vor, denn ihr Streben erstreckt sich auf Verschiedenes, lọsst also Variation zu. Nur bei ihnen ist das Prinzip der Strebebewegung, also die Inklination, nicht durch die Form des Lebewesens festgelegt und dennoch ein dem strebenden Lebewesen inneres Prinzip,176 was es rechtfertigt, seine Strebebewegung nicht als Fremdbewegung, sondern als Selbstbewegung zu fassen.177 Denn bei Lebewesen folgt die inclinatio dem bonum apprehensum, also dem wahrgenommenen Guten. Was eine Neigung hervorzurufen vermag, họngt hier davon ab, wie der ọuòere Gegenstand wahrgenommen wird, und die appetitive Seelenbewegung bleibt so ein immanenter Akt der Seele.
Die Besonderheit hierbei liegt darin, dass die Beziehung jedweden Gegenstandes zur Seele eine zweifache sein kann: Einmal in der Weise der Apprehension, bei der der wahrgenommene Gegenstand seiner Form nach in der Seele prọsent ist. Die zweite Weise ist die der Appetition, bei der der Gegenstand als real existierender Ziel einer Strebung wird:
Die Seele neigt sich zu dem Gegenstand hin. Bei der Apprehension kann der Gegenstand in der Seele prọsent sein, weil seine Seinsweise nach Art der Seele die des Erkennbaren, des wesentlich Bestimmten ist. Anders verhọlt es sich bei der Appetiton: Die (wahrnehmbare) Form bestimmt zwar die Wesenheit (essentia) eines Seienden, doch die Wesenheit ist nicht sein Sein. Vielmehr verhọlt sich die essentia zum esse eines Seienden nach Art einer Potenz.
Die letzte Aktualitọt des Seienden, das, was es im Innersten ausmacht, ist damit sein Sein.
Wọhrend Apprehension also auf das Erkennbare geht, nọmlich das Wesen des Seienden, das dann als Erkanntes in der Seele selbst Realitọt hat, und somit der Akt der Apprehension in der Seele selbst vollendet wird, ist der Vollzug der Appetition erst dann vollendet, wenn die
174 Dewan 1980, S. 557 weist darauf hin, dass Bewegung nur in metaphorischer Redeweise von den Seelenvermửgen ausgesagt werden kann.
175 Dementsprechend parallelisiert Thomas die Apprehension mit dem Zustand der Ruhe, siehe STh I q. 81 a. 1:
„Et ideo operatio apprehensivae virtutis assimilatur quieti: operatio autem virtutis appetitivae magis assimilatur motui.“
176 STh I q. 80 a. 1.
177 Zu beiden Aspekten, dem der Selbstbewegung und dem des nicht auf Eines Festgelegtseins, vgl. Schlüter 1971, S. 111.
Hinneigung zum real existierenden Gegenstand erfolgt.178 Denn das Sein des Gegenstandes kann nicht nochmal in eine andere Seinsweise gesetzt werden: Es ist das, was das Seiende zu einem eigenstọndigen, einmaligen Seienden macht.179 Das Prinzip der Hinneigung zum Erstrebten muss daher aus dem Sein des erstrebten Gegenstandes selbst genommen werden. Es bezieht sich auf das, was nach Thomas das einzelne Seiende zu dem für sich bestehenden, eigenstọndigen Seienden macht, dem also, was seine Besonderheit gegenỹber allem anderen ausmacht und es von allem unterscheidet. Die Strebebewegung ist deshalb notwendig dynamisch, sie muss sich dem erstrebten Gegenstand zuwenden, so wie dieser an sich selbst ist. Sie wendet sich dem erstrebten Gegenstand insofern zu, als dieser etwas Einmaliges, vom Strebenden Unterschiedenes ist. Der Strebende greift in der Strebebewegung über sich selbst hinaus.
Trotz dieses dynamischen Ausgriffs ist die Strebebewegung als immanenter Akt der Seele zu kennzeichnen. Immanente Akte der Seele sind solche, die das agens selbst vervollkommnen.
Nicht die Einwirkung auf etwas anderes ist hier entscheidend, sondern die „Wirkung“ im Handelnden selbst. Thomas nennt als immanente Akte Verstehen, Fühlen und Wollen.180 Sie verbleiben im Handelnden selbst. Das Gegenstück zu immanenten Akten sind transeunte, also solche, die nach auòen wirken, die irgendwie auf anderes hin Einfluss nehmen, wie etwa das Feuer, das etwas erwọrmt. Transeunte Akte bewirken eine Verọnderung in der Welt, immanente Akte eine des agens. Nur ein agens, dem die eigene Vervollkommnung so in seine Macht gegeben ist, dass die Strebebewegung der Apprehension folgt, ist daher zu immanenten Akten fọhig181: Das Prinzip der Wahrnehmung liegt in der Art und Weise, wie der wahrgenommene Gegenstand vom Wahrnehmenden aufgenommen wird, ist also in der Seele des Wahrnehmenden, wohingegen das Prinzip des Strebens in der Art liegt, wie der
178 STh I q. 81 a. 1: „…nam operatio virtutis apprehensivae perficitur in hoc, quod res apprehensae sunt in apprehendente; operatio autem virtutis appetitivae perficitur in hoc, quod appetens inclinatur in rem appetibilem.“ Nọher zu diesem Prinzip Dewan 1980, S. 563.
179 Schlüter 1971, S. 118 f. spricht daher von einem „irreduziblen“ Gegenüberstehen von Strebendem und Erstrebtem, die bei der Strebebewegung notwendig verschieden bleiben. Streben habe daher „ekstatischen“
Charakter.
180 STh I q. 18 a. 3 ad 1.
181 In besonderer Weise muss dies vom Menschen gelten, der kraft seiner Rationalitọt etwas unter der Hinsicht des universellen Guten wahrnehmen und folglich erstreben kann. Denn ihm ist auf diese Weise gegeben, durch partikulọre Strebensakte an seiner eigenen Gutheit im universellen, moralischen Sinne mitzuwirken. Thomas bezeichnet daher immanente Akte als die eigentlich moralischen Akte, STh I-II q. 74 a. 1: „ Actuum autem quidam transeunt in exteriorem materiam, ut urere et secare: et huiusmodi actus habent pro materia et subiecto id in quod transit actio ... . Quidam vero actus sunt non transeuntes in exteriorem materiam, sed manentes in agente, sicut appetere et cognoscere: et tale actus sunt omnes actus morales, sive sint actus virtutum, sive peccatorum.“ Zur Eigenart menschlicher Akte, sofern sie moralisch sind, sogleich unten unter 2.
erstrebte Gegenstand an sich selbst existiert, sich also auf die Seinsweise des erstrebten Gegenstandes auòerhalb der Seele bezieht.182 Diese Hinneigung zum Gegenstand erfolgt nun aber bei einem Sinnenwesen insofern, als dieser als Gut wahrgenommen wird, die Entsprechung zwischen Gegenstand und inkliniertem Vermửgen họngt hier also von der vorherigen Wahrnehmung des Gegenstandes als Gut ab. Das Prinzip der Hinneigung kommt dabei aus dem Lebewesen selbst, es kann von einem Gegenstand inkliniert werden oder auch nicht: Zwischen Seinsweise des erstrebten Gegenstandes und Inklination gibt es eine Entsprechung, die mittels der Wahrnehmung des Gegenstandes (deren Prinzip wiederum in der Seele ist) zustande kommt. Die Strebebewegung hat auf diese Weise ihr Prinzip aus der Seinsweise des erstrebten Gegenstandes, folgt aber dem Akt der Wahrnehmung dieses Gegenstandes als erstrebbar, also als Gut, und damit einem Akt, dem als Apprehensionsakt sein Prinzip wiederum innerlich ist. Diese Innerlichkeit macht die Wahrnehmungs- und Strebensakte eines Sinnenwesens zu immanenten Akten, so dass appetitus naturalis und sinnliches Streben fundamental unterschieden sind.183
Wenn nun die inclinatio so in der Macht des Lebewesens steht, dass die Wahrnehmung des Gegenstandes als Gut von einem Vernunfturteil abhọngt, das den Gegenstand unter der Hinsicht des universellen Guten beurteilt, dann handelt es sich bei dem appetitiven Vermửgen um Willen, also um vernỹnftiges Strebevermửgen.184 Den rationalen Vermửgen ist es eigen, immateriell zu sein und sich daher in der Reflexion auf sich selbst beziehen zu kửnnen. Die sich selbst erkennen kửnnende Vernunft und der Wille, der sich selbst wollen kann, sind daher wie kein anderes Vermửgen unabhọngig und eigenstọndig. Weiteres Merkmal der geistigen Natur dieser beiden Vermửgen ist die Offenheit fỹr alles, sie sind nicht wie die sinnlichen Vermửgen auf bestimmte Gegenstọnde festgelegt. Wie der geistigen Erkenntnis prinzipiell alles unbegrenzt zugọnglich ist, so bezieht sich das geistige Streben
182 Siehe hierzu Dewan 1980, S. 571 f.
183 Siehe Schlỹter 1971, S. 115: „Gilt fỹr dieses (=actio transiens) [das] Verhọltnis von actio – passio, so ist es fỹr jenes (= actio immanens) ỹberboten: Der Erkennende und Liebende tritt als solcher in eine vửllig neuartige Beziehung zur Welt, für die es auf der Stufe der nicht-empfindenden Wesen nichts Vergleichbares gibt.“
184 Zutreffend weist Schlüter 1971, S. 117 Fn 103 darauf hin, dass das erstrebte Seiende immer ein Partikulares ist, da sich die Strebung auf das Seiende gerade unter der Hinsicht bezieht, wie es in sich selbst besteht. Nicht zutreffend ist jedoch seine Folgerung, dass deshalb die Unterscheidung zwischen sinnlichem und vernünftigem Streben nicht aus der Unterscheidung partikulọr (= sinnlich) vs. universell (=vernỹnftig) genommen werden kửnne. Denn gerade im Selbststand des Seienden liegt doch seine Ähnlichkeit zum Schửpfer. Etwas unter der Hinsicht des universellen Guten zu beurteilen heiòt daher, es gerade insofern es diese Ähnlichkeit besitzt wahrzunehmen. Das aber ist Sache der Vernunft, da nur sie die Offenheit zum Universellen besitzt. Die Partikularitọt des Erstrebten steht dem nicht entgegen, im Gegenteil, die Einmaligkeit des Erstrebten ist gerade Ausdruck der Ähnlichkeit der Kreatur zum Schửpfer. Denn das Gutsein des Geschửpfes ist Folge der Liebe des Schửpfers. Fỹr Thomas wendet sich z.B. die Liebe zu einem anderen Menschen deshalb gerade insofern dem geliebten Menschen zu, als er/sie von Gott geliebt wird.
gleichsam schrankenlos auf das universelle Gute.185 Dafür, dass vom sinnlichen Streben noch ein rationales Streben abgehoben werden muss, spricht schon die Existenz geistiger Güter, die unanschaulich und immateriell sind und damit nicht Gegenstand sinnlicher Wahrnehmung sein kửnnen.186 Doch auch materielle, sinnlich wahrnehmbare Gỹter kửnnen unter der Hinsicht des universellen Guten erstrebt werden – ein und dasselbe Gut kann sowohl vom sinnlichen als auch vom rationalen Strebevermửgen begehrt werden. Fỹr das Gut als Gut ist es zwar unwesentlich, ob es sinnenhaft oder geistig erfasst wird. Ein einzelnes Gut unter der Hinsicht der universellen Gutheit zu beurteilen heiòt aber, sein Gutsein als ein lediglich partikulọres Gutsein zu erfassen, also als etwas, das zu erstreben nicht zwingend ist.
Die Hinneigung zum Gut wird dadurch verfỹgbar, das partikulọre Gut kann erstrebt werden oder auch nicht. Wọhrend das sinnenhafte Strebevermửgen dann aktuiert wird, wenn etwas unter einer bestimmten, partikularen Hinsicht als Gut wahrgenommen wird, steht die Aktuierung des rationalen Strebevermửgens ganz in der Macht des Strebenden, da kein partikulares Gut imstande ist, die Bewegung des rationalen Strebevermửgens notwendig hervorzurufen187 und in der Welt ausschlieòlich partikulare Gỹter begegnen.188
Kennzeichen des Willens eines endlichen Wesens ist die Wendung nach auòen.189 Denn nur einem unendlichen Wesen kann das Gute innerlich sein.190 Jedes endliche Wesen wendet sich folglich in der Willensbewegung nach auòen, da sich das Gute als eigentỹmliches Objekt des Willens immer auch auòerhalb seiner selbst befindet.
Die Besonderheit eines appetitiven Vermửgens im Gegensatz zu einem apprehensiven Vermửgen liegt also in seiner Auòengewandtheit, der eine andere Beziehung zum
185 Vgl. Zimmermann 1974, S. 138 f.
186 Thomas nennt in STh I q. 80 a. 2 ad 2 Wissenschaft und Tugenden als Beispiel für solche Güter.
187 STh I-II q. 10 a. 2.
188 Dass die beatitudo perfecta als vollkommenes Gut den Willen notwendig bewegt, kann daher für die Frage der Willensfreiheit, sofern sie als moralphilosophisches Problem gefasst wird, vernachlọssigt werden. Zur theologischen Problematik, ob Freiheit der Kreatur angesichts des Schửpfers in dieser Konzeption mửglich ist, siehe Andeutungen bei Schlüter 1971, S. 121 ff; Riesenhuber 1974, S. 960 f. Zimmermann 1974 meint, der Wille bliebe auch dann noch Vermửgen der Wahl, wenn er das, was sich ihm darbietet, unter jeder Hinsicht wollen wird – denn die unbegrenzte Gutheit kann in unendlich vielen verschiedenen Weisen erkannt und als gut erkannt werden, so dass der Wille auch dann noch auf Verschiedenes gerichtet sei, wenn ihm das letzte Ziel gegenwọrtig sei.
189 Siehe auch STh I-II q. 9 a. 4.
190 Vgl. STh I q. 59 a 1 und 2, siehe hierzu Dewan 1980, S. 576 ff.
Gegenstand zugrundeliegt als bei der Apprehension. Dieser „Realismus“ des Strebens macht seinen dynamischen Charakter aus191.
2. Die Passivitọt des Willens und das universelle Gute
Neben der Auòengewandtheit ist der Aspekt der Passivitọt jedes Strebens hervorzuheben:
Jedes Streben ist ein (auch) passives Vermửgen192, das von seinem Objekt, dem Guten, affiziert wird wie das Leidende vom Wirkenden. Den Affekt, den das Gute hervorruft, nennt Thomas Liebe, amor. Eigentümlichkeit des Guten als solchem ist es gerade, für die Strebevermửgen bewegender Einfluss zu sein. Dabei wirkt das Gute durch sein Gutsein als Zielursache für die Strebebewegung. Das Gefallen am Guten, die complacentia,193 ist der Ursprung jeder aktiven Strebebewegung. Daher kann die Liebe als Grundakt des menschlichen Daseins bezeichnet werden194; denn jedes seelische Streben und damit auch jedes menschliche Handeln setzt eine gewisse Art von Liebe, amor, voraus.195 Die ganze Fülle seelischer Regungen wird von Thomas auf die Strebevermửgen der Seele zurỹckgefỹhrt – Begehren, Zuneigung und Freude, Beglücktsein, Hoffnung, Zuversicht, aber auch Hass , Trauer, Leid, Abscheu, Widerwille, Verzweiflung, Furcht oder Zorn196 – alle diese Affekte fasst er als passiones animae, also als Bewegungen des strebenden Seelenteils. Auch Handlungen erfordern eine Strebebewegung, ist es doch gerade die Dynamik des Strebens, die das Tọtigwerden zur ĩberbrỹckung des Abstandes zwischen Strebendem und Erstrebtem erforderlich macht.197 Wurzel all dieser strebenden Bewegungen ist aber amor: Die Liebe bewirkt im fühlenden Wesen eine Geneigtheit für das Objekt, die Grundlage allen Strebens und damit Voraussetzung auch für jede andere Affektion ist.198 Selbst der Wille hat als Strebevermửgen die complacentia am Guten zur notwendigen Voraussetzung: Die Liebe zum universellen Guten konstituiert den Willen als universelles Strebevermửgen und ermửglicht
191 Zu Realismus und Dynamik von Appetition vgl. Schlüter 1971, S. 117-119.
192 STh I q. 80 a. 2: „Potentia enim appetitiva est potentia passiva, quae nata est moveri ab apprehenso.“
193 STh I-II q. 26 a. 1, 2.
194 Ausführlich hierzu Brungs 2005, S. 213-216.
195 STh I-II q. 27 a. 4: “…nulla alia passio animae est quae non praesupponat aliquem amorem.“ Thomas geht sogar noch weiter: In einem weiten Verstọndnis von Liebe ist sie Grundlage jeglicher Aktivitọt eines geschaffenen Wesens, STh I-II q. 28 a. 6.
196 Aufzọhlung bei Schlỹter 1971, S. 113.
197 Zur Dynamik des Strebens siehe oben im vorherigen Abschnitt a).
198 Zu amor als Voraussetzung von desiderium in Thomas’ Spọtwerk vgl. Malloy 2007.