Passiones animae und Tugend

Một phần của tài liệu Die per se schlechte handlung in der summa theologiae des thomas von aquin (Trang 105 - 113)

Die passiones animae kửnnen also willentlich sein bzw. mit dem Willensvermửgen interagieren und müssen daher auch moralische Relevanz besitzen. Offensichtlich kann jedoch nicht gemeint sein, dass jede erfỹllte Strebung auch zum erfỹllten Leben gemọò der Vernunft beitrọgt – Thomas betont wieder und wieder, dass nur die vernỹnftigen Strebungen das gute Leben befửrdern. Die sinnliche Antriebsstruktur gibt also nicht unmittelbar vor, was das moralisch Gute ausmacht. Vielmehr integriert erst die Lehre von der Tugend als vernünftigem habitus der seelischen Strebungen die natürlichen Antriebe in die Morallehre. Die Notwendigkeit dieses weiteren Schritts ergibt sich für den modernen Leser aus der Gefahr, einen naturalistischen Fehlschluss zu begehen, der vorliegen würde, wenn von faktischen Bedürfnissen und Trieben auf moralisch erstrebenswerte Güter geschlossen würde. Thomas selbst sieht die Notwendigkeit eines solchen weiteren Schritts ebenfalls, er argumentiert mit der Mangelhaftigkeit und der Unterschiedlichkeit der Menschen: Die organische Rückbindung der Seelenstrebungen führt dazu, dass ihre jeweilige Ausprọgung von Mensch zu Mensch unterschiedlich ist. Denn das Materielle ist fỹr Thomas immer auch Prinzip der Individuation, das, was das Einzelwesen zu einem Bestimmten macht. Die Begrenztheit der individuellen Natur ist dabei gegenüber der artspezifischen Natur des Menschseins immer auch eine individuelle Einschrọnkung, die individuelle Vorprọgung durch das materiale Prinzip kann den von der ỹberindividuellen Wesensnatur vorgegebenen Rahmen von Mửglichkeiten mehr oder weniger ausschửpfen.335 So erklọren

332 STh I-II q. 44 a. 2 : „Quia homini affecto secundum aliquam passionem, videtur aliquid maius vel minus quam sit secundum rei veritatem: sicut amanti videntur ea quae amat, meliora; et timenti, ea quae timet, terribiliora.“

333 Siehe zum Beispiel STh I-II q. 31 a. 7.

334 Gondreau 2007, S. 426: „There is no spiritual or moral excellence if the needs of the body are ignored.“

335 STh I-II q. 51 a. 1.

sich unterschiedliche Talente und Fọhigkeiten: Nicht jeder hat das Zeug zum groòartigen Pianisten oder herausragenden Sportler. Dies trifft auch auf das Gefühlsleben zu. Hier zeigt sich die naturhafte Disposition mửglicherweise in einem aufbrausenden oder sanften Charakter, in besonderer Risikobereitschaft oder auòergewửhnlicher Empathiefọhigkeit oder einem ausgeprọgten Gerechtigkeitssinn o.Ä..336 Nicht nur physische Defekte kửnnen eine solche Unterschiedlichkeit der Individuen hervorrufen, auch die allgemeine Antriebsstruktur kann nach Thomas gestửrt sein.337 Doch nicht nur die von der transmutatio corporalis und damit einer organischen Grundlage abhọngigen sinnlichen Strebungen unterliegen dieser konstitutionellen Schwọche des Individuums, auch das rationale Streben, der Wille, ist mit einer solchen anfọnglichen Mangelhaftigkeit behaftet und daher immer vom Scheitern bedroht. Trotz seiner unumkehrbaren Ausrichtung auf das universelle Gute, das ihn ỹberhaupt erst als rationales Strebevermửgen konstituiert, unterliegt jeder einzelne, partikulọre Strebensakt den Anfechtungen der Endlichkeit.338 Vernỹnftiges Streben – sei es des Willens selbst, sei es der vernünftig geordneten sinnlichen Strebungen – muss daher erlernt und erworben werden.339 Die naturhafte Anlage zum Guten, die jedes appetitive Vermửgen erst zu dem macht, was es ist (nọmlich ein Streben), kann daher nur eine Grundvoraussetzung fỹr das gute Leben sein, das fỹr den Menschen das vernunftgemọòe, tugendhafte Leben ist, eine Mửglichkeitsbedingung, die Thomas die Keimzellen der Tugend nennt, seminalia virtutum.340

Seitens der Seele, also von der formalen Bestimmung her gedacht, gibt es keine naturhafte Anlage zur Tugend, also zu einem guten habitus. Hier sieht Thomas lediglich die Mửglichkeit, durch die Frage nach der ratio des jeweiligen Vermửgens selbst zu allgemeinen Prinzipien zu gelangen, da das eigentỹmliche Objekt eines appetitiven Vermửgens nicht durch seinen

336 Vgl. STh I-II q. 63 a. 1: „…unus homo habet naturalem aptitudinem ad scientiam, alius ad fortitudinem, alius ad temperantiam.“ Vgl. auch STh I-II q. 51 a. 1: „…ex parte corporis, secundum naturam individui, sunt aliqui habitus appetitivi secundum inchoationes naturales. Sunt enim quidam dispositi ex propria corporis complexione ad castitatem vel mansuetudinem, vel ad aliquid huiusmodi.“

337 STh I-II q. 31 a. 7.

338 Dem vernunftgemọòen Guten ist der Wille zwar naturhaft zugeneigt, doch in der geteilten Welt ist nicht nur das eigene Gut, sondern auch das der anderen zu berücksichtigen, was die naturhafte Ausrichtung des Willens ỹbersteigt; er bleibt das Vermửgen eines Individuums mit eingeschrọnkter Perspektive auf sein eigenes Gut.

Der Wille ist daher Trọger der Tugend der Gerechtigkeit, STh I-II q. 56 a. 6 (dort auch zum gửttlichen Gut und der theologischen Tugend der Liebe).

339 Vgl. Schockenhoff 1998, S. 109: „Der Mensch kommt als Orientierungswaise zur Welt, die erst in mühevoller Disziplin und Selbsterziehung lernen muss, in wechselnden Lebenslagen die richtigen Entscheidungen zu treffen und das Chaos seiner Leidenschaften zu einem vernunftgeleiteten Streben zu ordnen.“

340 STh I-II q. 63 a. 1:“…seminalia virtutum insunt nobis a natura, inquantum rationales sumus.“

habitus bestimmt wird, sondern diese Bestimmung aus der Eigenart des Vermửgens selbst herrỹhrt. Eine anfọngliche Hinneigung zu einem guten habitus, wie sie fỹr die materielle Seite des Strebens mửglich ist, kann es hier nicht geben. Das Streben selbst ist als seelisches Streben schon vom Vermửgen her auf das Gute ausgerichtet, allerdings ist dieses eigentümliche Objekt bzw. Gut des Strebens abstrakt und weitgehend unbestimmt. Thomas verweist fỹr diese abstrakte Bestimmung der den jeweiligen Strebevermửgen eigentümlichen Objekte auf die obersten Prinzipien des natürlichen Gesetzes, die wegen ihrer Naturhaftigkeit seminalia virtutum genannt würden.341 In seiner Gesetzeslehre benennt Thomas vier inclinationes naturales, deren Zielgütern er Gesetzesvorschriften zuordnet.342 Was aber konkret ein Gut und daher handelnd (d.h. willentlich) zu erstreben ist, das lọsst sich nicht aus naturhafter Anlage erkennen, sondern nur mit dem habitus der Tugend treffsicher im Einzelfall entscheiden. Deshalb ordnet Thomas jeder Naturneigung eine der vier moralischen Tugenden zu.343 Die naturhafte Anlage ist insoweit eben nur wie eine Keimzelle.

(Moralische) Tugend ist fỹr Thomas die habituelle Ermửglichung von rechtem Wollen und seiner Umsetzung. Sie bestimmt ihren Trọger, eines der Strebevermửgen, zu dem ihnen angemessenen Akt.344 Dabei ist es gerade die Vernunfthaftigkeit der Strebevermửgen, die die habituelle Formung ermửglicht und erforderlich macht. Denn die Vernỹnftigkeit ist der Grund, weshalb die menschlichen Vermửgen nicht auf eines festgelegt, sondern vielem gegenüber offen sind. Der habitus wird von Thomas als Prinzip zur leichteren Hervorbringung bestimmter Handlungen und als Vervollkommnung der Natur des Handelnden eingefỹhrt345. „Leichtere Hervorbringung“ und „Bestimmung des Aktes“ heiòt nun aber nicht, dass der tugendhafte habitus vollstọndig determinieren wỹrde, welche Handlung vollzogen wird. Der tugendhafte Mensch bleibt jederzeit zu der Tugend widersprechenden und moralisch schlechten Handlungen in der Lage. Der Akt der Tugend, so

341 STh I-II q. 51 a. 1: „In appetitivis autem potentiis non est aliquis habitus naturalis secundum inchoationem, ex parte ipsius animae, quantum ad ipsam substantiam habitus: sed solum quantum ad principia quaedam ipsius, sicut principia iuris communis dicuntur esse seminalia virtutum.“

342 Hierzu ausführlich im dritten Teil.

343 STh II-II q. 108 a. 2: „Unde patet quod virtutes perficiunt nos ad prosequendum debito modo inclinationes naturales, quae pertinent ad ius naturale. Et ideo ad quamlibet inclinationem naturalem determinatam ordinatur aliqua specialis virtus.“

344 STh I-II q. 55 a. 1.

345 STh I-II q. 49; siehe hierzu Nickl 2005, S. 37 ff.

Thomas, ist nichts anderes als der gute Gebrauch der freien Selbstbestimmung, 346 Der Tugendhafte gewinnt damit an Freiheit, ihm fọllt Gebrauch und Umsetzung von Wille und Vernunft leichter als dem, dessen Strebungen nicht durch den tugendhaften habitus geordnet sind.347 Er wird nicht nur nicht durch fehlgeleitete Strebungen abgelenkt, er wird auch nicht wegen mangelnder Festigkeit seines Strebens durch Hindernisse abgehalten, sondern er weiò seine sinnlichen Strebungen richtig fỹr sich zu nutzen; bei der Umsetzung seines Wollens in ọuòeres Handeln bewegt er sich dank der Gerechtigkeit innerhalb seiner Freirọume und kennt seine Verantwortung gegen andere. Tugend habitualisiert Verhalten ohne zu determinieren, sie „kanalisiert“ die Strebevermửgen, ohne einzuengen. Durch sie kommt die freie Selbstbestimmung zur Entfaltung.

Ein habitus wird von Thomas in doppeltem Sinne als Tugend bezeichnet, nọmlich einmal, insofern er die Befọhigung zum rechten Tun gibt, aber auch, insofern er zugleich zu dieser Befọhigung den Vollzug des Tuns gut macht.348 Nun ist der gute Vollzug von der Ordnung des strebenden Seelenteils abhọngig, so dass letzterer habitus – der eigentlich moralische habitus – ein habitus des strebenden Seelenteils sein muss. Die intellektuellen Tugenden beziehen sich auf das verstandhafte Seelenvermửgen und schaffen daher zwar die Befọhigung zum rechten Tun, der Gebrauch dieser – gegebenenfalls habituell gestọrkten – Fọhigkeit jedoch ist nur dann gut, wenn der entsprechende moralische habitus des strebenden Seelenteils vorhanden ist.

Eine Sonderstellung kommt hierbei der Klugheit zu, die nicht nur die Befọhigung zum guten Werk verleiht, sondern auch den guten Vollzug ermửglicht, da sie selbst bereits die Rechtheit des Strebevermửgens „voraussetzt“.349 Tugendhaft geordnete Strebungen bewirken die richtige Ausrichtung auf angemessene Ziele, deren gute Verwirklichung Aufgabe der Klugheit ist: Wie einer beschaffen ist, so erscheint ihm das Ziel. Die vernünftige Ordnung der Strebungen stellt sicher, dass die Beurteilung des Ziels aus vernünftiger Leidenschaft erfolgt.

Umgekehrt ist die gute Ausrichtung auf angemessene Ziele selbst etwas, das sich nur im

346 STh I-II q. 55 a. 1 ad 2: „Nihil est enim aliud actus virtutis quam bonus usus liberi arbitrii.“

347 Horn 2005, S. 48: „Insofern der Tugendbesitz eine zuverlọssige Verfỹgung ỹber wỹnschenswerte Verhaltensweisen bedeutet, erhửht man durch Tugendbesitz seinen dispositionalen Spielraum, sein Aktionspotential.“

348 STh I-II q. 57 a. 1: „...duplici ratione aliquis habitus dicitur virtus, ut supra dictum est: uno modo, quia facit facultatem bene operandi; alio modo, quia cum facultate, facit etiam usum bonum.“

349 STh I-II q. 57 a. 4: „Prudentia autem non solum facit boni operis facultatem, sed etiam usum: respicit enim appetitum, tamquam praesupponens rectitudinem appetitus.“

Handeln selbst beweist und zeigt, und Ziele werden handelnd verwirklicht durch die rechte Entscheidung für eine konkrete Handlung. Die Klugheit als Tugend der rechten Entscheidung ist damit ihrerseits „Voraussetzung“ der tugendhaften Ordnung der Strebungen.350 Obwohl sie selbst nicht Tugend eines Strebevermửgens ist, ist sie doch auf das richtige Handeln ausgerichtet. Sie ist damit die Tugend der praktischen Vernunft – einer praktischen Vernunft, die mit den (sinnlichen) Strebungen in Interaktion steht. Sie hat deshalb innerhalb der vier Kardinaltugenden eine „Scharnierfunktion“351.

Tugend des vernỹnftigen Strebevermửgens ist die Gerechtigkeit, das konkupiszible Strebevermửgen ist Trọger der Maòhaltung, das iraszible der Tapferkeit.352

Neben dieser Unterscheidung zwischen verstandhaften und moralischen Tugenden sind eingegossene und natürliche, erworbene Tugenden zu differenzieren353: Die eingegossenen Tugenden, auch theologische Tugenden genannt, sind vordergründig Liebe, Glaube und Hoffnung. Wer im Besitz der eingegossenen Tugend ist, für den bekommen jedoch auch Klugheit, Gerechtigkeit, Maòhaltung und Tapferkeit eine neue, tiefergehende Bedeutung354. Die eingegossenen Tugenden kửnnen nicht handelnd erworben werden, sondern werden kraft gửttlicher Gnade empfangen. Fỹr den Moraltheologen Thomas kommt der Liebe dabei eine herausgehobene Stellung zu – sie ist für alle anderen Tugenden architektonisch. Dabei entspricht diese herausgehobene Stellung der Tugend der Liebe (caritas) der fundamentalen Bedeutung des amor (Leidenschaft, nicht Tugend!) als Grundakt (nicht nur) menschlichen Daseins.355 Dass dessen Grund philosophisch unzugọnglich bleibt, wurde bereits gezeigt.

Dem entspricht, dass für die moralphilosophische Rekonstruktion der Tugendlehre für den

350 STh I-II q. 57 a. 5; q. 58 a. 4, 5. Horn 2005, S. 51 kennzeichnet das Wechselverhọltnis zwischen Klugheit und den anderen moralischen Tugenden wie folgt: „Auf der einen Seite erweisen sich die intellektuellen Tugenden insofern als vorrangig, als die Klugheit die kausale Bedingung der Mửglichkeit moralischer Tugend bildet… Auf der anderen Seite kommt den moralischen Tugenden insofern ein Vorrang zu, als diese die logische Bedingung der Mửglichkeit von Klugheit darstellen.”

351 STh I-II q. 65 a. 1.

352 STh I-II q. 61 a. 2.

353 STh I-II q. 62 a. 1.

354 STh I-II q. 63 a. 4.

355 Genauer zum Verhọltnis von caritas und amor im Gefỹge der Tugenden (eingegossen und natỹrlich) siehe STh I-II q. 62 a. 2 ad 3: „...licet caritas sit amor, non tamen omnis amor est caritas. Cum ergo dicitur quod omnis virtus est ordo amoris, potest intelligi vel de amore communiter dicto; vel de amore caritatis. Si de amore commniter dicto, sic dicitur quaelibet virtus esse ordo amoris, inquantum ad quamlibet cardinalium virtutum requiritur ordinata affectio: omnis autem affectionis radix et principium est amor, ut supra dictum est. - Si autem intelligatur de amore caritatis, non datur per hoc intelligi quod quaelibet alia virtus essentialiter sit caritas: sed quod omnes aliae virtutes aliqualiter a caritate dependeant, ut infra patebit.“

Bereich der theologischen Tugenden eine Leerstelle verbleibt und die natürlichen Tugenden eine gleichsam unvollstọndige Moral liefern – die freilich in ihrer Unvollstọndigkeit die Erlangung des innerweltlichen bonum imperfectum mit allen seinen Unwọgsamkeiten und Defiziten doch in die Macht des Menschen gibt356.

Unter den erworbenen Tugenden hat nun nicht nur die Tugend der Klugheit eine herausgehobene Stellung, auch der Gerechtigkeit kommt eine besondere Funktion zu.

Wọhrend Thomas als Grundregel feststellt, dass sittliche Tugend nicht ohne Affektionen sein kann, weil sie es ja gerade mit der vernünftigen Ordnung der sinnlichen Strebungen zu tun hat, so macht er dennoch sogleich eine Ausnahme für einen bestimmten Ausschnitt der sittlichen Tugend, nọmlich die Kardinaltugend der Gerechtigkeit.357 Da diese der vernunftgemọòen Ordnung des Willens dient, zeigt sich hier eine Besonderheit: Denn der Wille ist als rationales Strebevermửgen im Gegensatz zum sinnlichen Strebevermửgen nicht an die transmutatio corporalis als materiale Komponente gebunden und unterliegt daher nicht in derselben Weise wie das sinnliche Strebevermửgen der durch die organische Rückbindung bedingten Mangelhaftigkeit. Akt des Willens ist typischerweise keine passio, sondern eine Handlung in der Welt, eine operatio.358 Obwohl der Willensakt des usus die Wirkung des Willens auf jedwedes Vermửgen benennt, also gleichermaòen die Steuerung der passiones animae wie die der physischen Vermửgen meinen kann, so bezieht sich die dem Willen als Trọger zukommende Tugend doch auf die Ausrichtung der operationes auf das Gute. Denn die Zielgüter der Leidenschaften, die der Wille steuern kann, sind diesem natürlicherweise Güter. Das eigentliche Ziel einer Handlung aber, das auch das eigentliche Gut des Willens ist, ist kein innerer Akt eines Seelenvermửgens, sondern eine ọuòere Handlung in der Welt. Die ọuòere Handlung bedarf fỹr sich betrachtet keiner Leidenschaft, so dass auch die Tugend der Gerechtigkeit eine „leidenschaftslose“ Tugend ist. Doch die Grundstruktur der sittlichen Tugend als vernỹnftige Ordnung und damit auch Krọftigung der natürlichen Antriebe, die individuell unterschiedlich und in ihrer materiellen Rỹckgebundenheit durch die Individuation gefọhrdet und brỹchig sind, bleibt auch hier erhalten. Der Wille ist als Strebevermửgen auf die Fỹhrung durch die Tugend deshalb angewiesen, weil auch er als Wille eines menschlichen Individuums mangelhaft ist, insofern

356 Man muss also nicht glọubig sein, um tugendhaft sein zu kửnnen, STh I-II q. 65 a. 2. Zu Funktion und Reichweite der erworbenen Tugenden qua natürliche Tugenden siehe STh I-II q. 61 a. 5.

357 STh I-II q. 59 a. 5: „…virtutes morales quae sunt circa passiones sicut propriam materiam, sine passionibus esse non possunt ... Virtutes vero morales, quae non sunt circa passiones, sed circa operationes, possunt esse sine passionibus (et huiusmodi virtus est iustitia): quia per ea applicatur voluntas ad proprium actum, qui non est passio.“

358 Siehe Fn 324.

als er sich immer nur auf partikulare Güter richtet und der partikularen Perspektive des jeweiligen Akteurs unterworfen ist. Tritt er in die Welt, erweist sich diese partikulare Perspektive angesichts anderer Akteure als unzureichend und muss einer rechten Ordnung zugeführt werden.

Die Fỹhrung des vernỹnftigen Strebenvermửgens durch erworbene Tugend ist deshalb ỹber die Gerechtigkeit in besonderer Weise im Gemeinschaftsleben verankert. Das Handeln in der Welt ist ein Handeln in einer geteilten Welt. Dies ist aber nicht nur im Bereich der Tugend der Gerechtigkeit von Bedeutung. Denn gerade der Gegensatz der Tugend als etwas Erworbenem im Gegensatz zu etwas naturhaft Angelegtem macht sichtbar, dass Handlungswissen und Orientierung im Praktischen erlernt werden und dafür eben auch nach auòen verwiesen sind359 – etwa so, wie man zum Musizieren zunọchst lernen muss, welches die allgemeinen Rhythmus-, Melodie- und Harmonieregeln sind, und auòerdem ỹblicherweise im Spiel mit anderen die in diesen konkreten Kreisen gọngigen Stỹcke und Konventionen kennenlernt, bevor man die Souverọnitọt hat, eigene Interpretationen und Variationen und einen eigenen Stil zu entwickeln und beizutragen. Die vermeintlich

„innerliche“ Fỹhrung der Tugend, die Ordnung der Affekte und dadurch die Ermửglichung und Fửrderung freier Willensbetọtigung, ist damit nicht losgelửst vom ọuòeren Handeln und dem Gemeinschaftsleben zu sehen. Denn es ist ja gerade das vernỹnftige Strebevermửgen, der Wille, dessen Anleitung auch die sinnlichen Strebungen in vernünftiges, menschliches Handeln einbindet und nutzt. Dieser Wille aber ist als Vermửgen nach auòen gerichtet, auf Handlungen. Da der Wille an die Gemeinschaft verwiesen ist, muss sich das auch den anderen Tugenden mitteilen.

Die naturhafte Ausrichtung auf das Gute besteht also für Thomas wie nach dem Zwiebelprinzip aus mehreren, auch dem Determinationsgrad nach abgestuften Schichten:

1. Oberste Schicht ist die für den Willen konstitutive Ausrichtung auf das universelle Gute.

Diese oberste Schicht ist aus sich selbst heraus fỹr partikulọre Strebensakte keine inhaltliche Vorbestimmung. Tritt der habitus der Gerechtigkeit hinzu, ist eine Neigung zur Sozialitọt, dem besonderen Gut der Gerechtigkeit, anzunehmen. Erst durch den tugendhaften habitus erfolgt hier also eine inhaltliche Bestimmung (wobei ein habitus selbstverstọndlich zwar eine

359 Besonders stark macht diesen Gemeinschaftsbezug Honnefelder 2008, S. 240-245, indem er dem Ethos als soziokulurell gewordener und bewahrter Grửòe zuschreibt, dem Einzelnen die Gestalt des gelingenden Lebens vorzugeben, innerhalb derer er allererst den Stand des Menschseins gewinne. Zugleich sichere das Ethos „den Bestand der betreffenden Gesellschaftsordnung und mit ihm die soziale Bedingung der Mửglichkeit von Handeln überhaupt“ (S. 244).

Handlungsgeneigtheit darstellt, aber dennoch die konkrete Handlungsentscheidung nicht determiniert: Auch der Gerechte bleibt zu ungerechten Akten fọhig.).

2. Dem untergeordnet sind die Ausrichtungen auf die jeweiligen Güter der anderen sittlichen Tugenden. Auch diese sind dem Willen naturhaft als Güter vorgegeben, doch anders als bei der obersten Schicht handelt es sich hier um eine inhaltliche Vorgabe, denn der habitus von temperantia und fortitudo ist nichts anderes als die bereits vernünftig geordneten Strebungen des Akteurs als Einzelnem. Bindeglied ist hier die Tugend der Klugheit, der prudentia. Ohne Klugheit, so Thomas, kann es keine sittliche Tugend geben. Denn die Klugheit ist praktische Vernünftigkeit, sie ist die Instanz, die allgemeine Vernunftprinzipien für den Einzelnen mit seinen besonderen Voraussetzungen anpasst und so überhaupt erst in Einzelhandlungen anwendbar macht. Naturhafte Güter sind nun aber nicht gleichzusetzen mit einer Determiniertheit zu guten Handlungen: Wer die sittlichen Tugenden der temperantia und der fortitudo besitzt, kann trotz der naturhaften Ausrichtung des Willens auf die Ziele dieser beiden Tugenden noch willentlich einzelne Akte der Unmọòigkeit oder der Feigheit begehen. Denn die Ausrichtung auf ein Ziel determiniert nicht das Mittel seiner Erreichung: Die konkrete Handlung kann trotzdem ein Scheingut zum Ziel haben, wie der Fall der Willensschwọche klar belegt, bei dem die im Einzelfall doch ỹberschieòenden Leidenschaften das Urteil der Klugheit trüben. Der habitus konditioniert das zugrundeliegende Vermửgen nicht so, dass der Akt des Vermửgens vorbestimmt wọre, sondern er bewirkt lediglich eine bestimmte Neigung des zugrundeliegenden Vermửgens, das im Einzelfall trotz habitueller Formung entgegengesetzt aktuiert werden kann.360

3. Unterste Schicht bilden die Ausrichtungen der kửrperlichen Vermửgen. Hier kửnnen insbesondere physische Defekte eine Stửrung bewirken, die die naturhafte Anlage zum Guten untergrọbt. Doch das jeweilige Gut der kửrperlichen Vermửgen differiert von vornherein von Mensch zu Mensch: Die individuelle Begrenztheit (materielles Prinzip) führt dazu, dass die naturhafte Ausrichtung auf das Gute auf dieser Ebene kaum Allgemeinheitscharakter besitzt, also von Akteur zu Akteur differiert. Wegen der mangelnden Steuerungsmửglichkeit durch den Willen hat diese naturhafte Anlage zwar die moralische Funktion, Voraussetzungen des individuellen Kửnnens zu benennen, lọsst aber darüber hinaus keinen positiven Schluss auf den normativen Gehalt des Guten zu.

Die Ziele der natỹrlichen Neigungen sind also entsprechend diesem Zwiebelprinzip vielfọltig und für die moralische Frage nach dem Guten gehaltvoll – allerdings nur insofern, als sie die Tugendziele benennen und somit vernünftig geordnet sind.

360 STh I-II q. 53 a. 1-3; vgl. hierzu Kent 2002, S. 119: „Habits make it harder, but never impossible, for the virtuous among us to degenerate and the vicious among us to improve.“

Một phần của tài liệu Die per se schlechte handlung in der summa theologiae des thomas von aquin (Trang 105 - 113)

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