1. Handlungsobjekt als Ausdruck des Rechts; die per se schlechte Handlung als Verbot der iustitia commutativa
Bisher konnte gezeigt weden, dass im Begriff des Handlungsobjekts eine Bestimmung getroffen wird, die in das Feld der Tugend der Gerechtigkeit gehửrt, weil im Handlungsobjekt der nach auòen getretene Sinn einer Handlung thematisiert wird. Pointe dieser Ausführungen von Thomas ist, dass das Handlungsziel (finis operantis) als rein subjektive Zielausrichtung des Handelnden diese rechtliche Bedeutung der Handlung nie aufheben kann. Denn nur durch die formalen Grenzen des Rechts bleibt den Einzelnen der Handlungsraum erhalten, der ỹberhaupt Intentionen im Gegensatz zu bloòen ohnmọchtigen Wỹnschen ermửglicht:
Der spezifische Gegenstandsbereich der Gerechtigkeit wurde charakterisiert durch die beiden Teiltugenden der distributiven und der kommutativen Gerechtigkeit. Wenn Kennzeichen der kommutativen Gerechtigkeit ist, dass sie auf das Gut des anderen ausrichtet, so heiòt das, dass die prinzipiell ihrem eigenen Gut selbstọndig nachstrebenden Einzelnen von ihren eigenen Bedürfnissen abstrahieren und einen Standpunkt einnehmen, der, um die Handlungskompetenz der Einzelnen in einer geteilten Welt überhaupt zu ermửglichen, andere Handelnde als mit derselben Handlungskompetenz ausgestattete Subjekte erkennt und als daher in ihrem Gutsstreben gleichberechtigte anerkennt. Dies ist notwendig ein Standpunkt der Abstraktion: Mein Gut ist eben nicht das Gut eines anderen, wie ein anderer konkret sein Leben gestaltet und welche Bedürfnisse er hierbei entwickelt, kann ich weder wissen noch muss ich darauf Rücksicht nehmen – dass er aber jemand ist, der handelnd sein Gut erstrebt, habe ich zu respektieren und formal zu ermửglichen, wenn ich fỹr mich selbst dieses Recht in Anspruch nehmen will. Hierzu gehửrt negativ, dass mein eigenes Gutsstreben das des anderen nicht hindern darf: Kollisionen sind zu vermeiden.
Gefọhrdungen oder Behinderungen des anderen, die von mir ausgehen, habe ich zu kontrollieren und zu vermeiden. Das Gleichgewicht zwischen den einzelnen Akteuren, die in Eigenstọndigkeit ihr Gutsstreben verwirklichen, darf ich nicht stửren. Positiv gehửrt dazu aber auch, dass ein solches Gleichgewicht herzustellen ist. Nicht nur fỹr Stửrungen des Gleichheitsverhọltnisses, fỹr die ich zustọndig bin, habe ich dem anderen gegenỹber – negativ - einzustehen. Auch die Mửglichkeit eines solchen Gleichheitsverhọltnisses überhaupt ist dem anderen als Forderung der Gerechtigkeit - positiv - geschuldet. Die Verstửòe gegen die iustitia commutativa, die Thomas aufzọhlt, konkretisieren die grundlegenden Regeln eines solchen Zusammenlebens eigenstọndiger Akteure. Die Einzelgerechtigkeit in Form der commutativa gibt also konkrete Handlungsregeln an die
Hand, die das Zusammenleben in der geteilten Welt ermửglichen. Nicht bei allen Verstửòen schreibt Thomas, dass die beschriebenen Handlungen immer und überall ungerecht seien.
Doch einige họlt er fỹr so wichtig, dass sie ỹberall dort unerlọsslich sind, wo Menschen in Gemeinschaft leben. Diese entsprechen den per se schlechten Handlungen.
Negativ festlegen lọsst sich im Rahmen der iustitia commutativa, was Unrecht ist, indem Verhaltensweisen identifiziert werden, die normalerweise den anderen ihr Gutsstreben unmửglich machen oder erschweren und die zu unterlassen deshalb Kompatibilitọtsbedingung fỹr das Zusammenleben menschlicher Akteure ist. Denn jede Handlung findet in einem geteilten Handlungsraum statt. Leitidee der Gerechtigkeit ỹberhaupt ist, Handeln mehrerer Akteure zu ermửglichen. Eine solche materiale Bestimmung ist jedoch nur im Negativen mửglich, Unrecht muss unterlassen werden. Was positiv Recht ist, lọsst sich hingegen nicht mit derselben Bestimmtheit festlegen. Wọhrend es bei den anderen Tugenden dasselbe ist, ob ich das Gute tue oder das Bửse meide, ist im Bereich der Gerechtigkeit ein Unterschied zwischen dem Herstellen eines Ausgleichs, also zwischen dem Tun des Guten, und dem Aufrechterhalten des gefundenen Ausgleichs, also dem Meiden des Bửsen.794 Denn die anderen Tugenden ordnen die menschlichen Leidenschaften, indem sie die Extremformen meiden. Das Meiden des Extrems ist hier gleichbedeutend mit dem Treffen der guten Mitte: Wer das Bửse meidet, tut hierdurch das Gute. Sobald jedoch mit einer ọuòeren Handlung auch der objektive Sinn einer Handlung in den Blick gerọt, ist das Feld der Gerechtigkeit erửffnet, bei der es sich anders verhọlt: Gerade weil sie es mit dem Handeln, insofern es in der Welt stattfindet, zu tun hat, also mit ọuòeren Handlungen und Dingen, ist das Gute nicht gleichbedeutend mit der Mitte zwischen zwei Extremen. Vielmehr geht der Verwirklichung des Guten, dem haupsọchlichen Akt der Gerechtigkeit, als Vorbedingung die Vermeidung des Bửsen voraus. Obwohl das bloòe Meiden des Bửsen noch nicht in vollkommener Weise Ausdruck der Gerechtigkeit ist, kann man doch den vollstọndigen Akt der Gerechtigkeit, nọmlich das Gute zu tun, nicht ohne die Voraussetzung der Vermeidung des Bửsen vollbringen.795
794 STh II-II q. 79 a. 1 ad 1: „...aliae virtutes morales consistunt circa passiones, in quibus bonum facere est venire ad medium, quod est declinare ab extremis quasi a malis: et sic in idem redit, quantum ad alias virtutes, facere bonum et declinare a malo. Sed iustitia consistit circa operationes et res exteriores, in quibus aliud est facere aequalitatem, et aliud est factam non corrumpere.“
795 STh II-II q. 79 a. 1 ad 3: „...facere bonum est actus completivus iustitiae, et quasi pars principalis eius.
Declinare autem a malo est actus imperfectior, et secundaria pars eius. Et ideo est quasi pars materialis, sine qua non potest esse pars formalis completiva.“
Typisch fỹr die Gerechtigkeit ist also, dass die Vermeidung des Bửsen nicht mit dem Tun des Guten gleichgesetzt werden kann. Dies hat auch Konsequenzen für die Reformulierbarkeit der tugendethischen Gerechtigkeitsforderungen in gesetzesethischen Vorschriften:
Es zeigt sich, dass „malum est vitandum” der eigentlich gesetzesethische Teil des obersten praktischen Prinzips ist, der zur Formulierung von Vorschriften geeignet ist.796 Der positive, genuin tugendethische Teil „bonum est faciendum” nọmlich hat auf der Ebene der Einzelhandlung andere Auswirkungen: Erstens ist das in der Welt zu verwirklichende Gute, gerade weil es auòerhalb des Handelnden anzutreffen ist, auch nicht vollstọndig in seiner Macht. Wie nọmlich ein Gut zu erstreben ist, welche Handlungsweisen also ein Gut befửrdern, lọsst sich fỹr die Einzelhandlung gar nicht voraussagen. Zweitens muss die Einzelhandlung in allen ihren Aspekten, insbesondere auch hinsichtlich ihres finis operantis als gut bewertbar sein. Was intendiert werden kann, also menschliche Gỹter, lọsst sich zwar benennen, nicht jedoch, welche Güter konkret im Leben eines einzelnen Akteurs eine Rolle spielen bzw. welchen Prioritọt zukommen soll – oder mit welchen bestimmten Handlungen diese zu erreichen sind. Dies kann nur der Einzelne selbst konkretisieren. Allgemeine menschliche Zwecke lassen sich zwar in Form des bonum humanum benennen – wie diese konkret handelnd zu verwirklichen sind, ist jedoch wegen der Grundbestimmung des Menschen als vernünftigem Wesen, das kraft dieser Vernunft Herr seiner Handlungen ist, nicht vorhersagbar. Was Gut des Einzelnen ist, kann nur bestimmt werden, wenn die allgemeinen menschlichen Güter relativ zu dem konkreten Lebensentwurf des Akteurs betrachtet werden, also gerade nicht absolut. Eigenart des menschlichen Guten ist gerade, einen eigenen Lebensentwurf zu ermửglichen, nicht jedoch ihn vorzuschreiben.
Dies hat zum Hintergrund die theologische ĩberlegung, dass der Mensch die handelnde Verwirklichung des Guten nicht vollstọndig in der Hand hat. Zwar ist der Erwerb der moralischen Tugenden in die Macht des Menschen gestellt, da sie auf Ziele ausrichten, die der natỹrlichen Ordnung angehửren.797 Wọhrend die ỹbernatỹrlichen Ziele der eingegossenen Tugenden also nur mit gửttlicher Gnade vom Menschen angestrebt werden, ist die Ausrichtung auf die Ziele der moralischen Tugenden in der Macht des Menschen. Die endliche Vernunft kann jedoch auch im Feld der moralischen Tugenden nicht bestimmt
796 Man beachte, dass Thomas im Ethikkommentar als „natỹrliche“, unverọnderliche Vorschriften der Gerechtigkeit solche nennt, die mit der Forderung „das Bửse ist zu meiden“, zusammenhọngen, In NE 5, lec. 12 n. 3: „etiam in operativis sunt quaedam principia naturaliter cognita, quasi indemonstrabilia principia et propinqua his, ut malum esse vitandum, nulli esse iniuste nocendum, non esse furandum, et similia“.
797 STh I-II q. 65 a. 2: „...virtutes morales prout sunt operativae boni in ordine ad finem qui non exedit facultatem naturalem hominis, possunt per opera humana acquiri.“
voraussehen, ob eine konkrete Handlung gut ist798 - denn das họngt von kontingenten, unwọgbaren Umstọnden einerseits und einer vửllig ỹberfordernden Folgenbewertung im Rahmen des Weltganzen andererseits ab -, nur die gute Intention liegt in ihrer Macht. Die gute Verwirklichung einer solchen Intention ist deshalb immer auch ein Werk gửttlicher Gnade.
Das Gebot, das Gute zu tun, ist daher viel unbestimmter als das Verbot, Bửses zu tun.799 Dies erklọrt, weshalb ein per se schlechtes Handlungsobjekt jede Einzelhandlung schlecht macht, ein per se gutes Handlungsobjekt jedoch nicht notwendigerweise dazu führt, dass die Einzelhandlung gut ist: Wọhrend sich die Mindestvoraussetzungen einer guten Handlung bestimmen lassen, bei deren Nichtvorliegen die Handlung schlecht ist, weil sich Handlungen identifizieren lassen, die normalerweise Verletzungshandlungen sind, hat umgekehrt die Bestimmung per se guter Handlungen nicht dieselbe Tragweite: Das auòerhalb des Handelnden liegende Gut ist als solches nicht in der Macht des Handelnden. Nur die Streberichtung – Vermeidung des Bửsen und Erstreben des Guten – liegt in der Macht des Handelnden.
Die vielfach konstatierte „Asymmetrie der Moral” bei Thomas ist – von ihm, wie soeben ausgeführt, wahrscheinlich in theologischer Perspektive konzipiert – somit auch aus gerechtigkeitstheoretischen Erwọgungen zu erklọren. Die Bestimmung des Handlungsobjektes ist als Charakterisierung einer Handlung, insofern sie Handlung in der Welt, ọuòere Handlung ist, eine rechtliche Bestimmung. Konkrete rechtliche Bestimmungen sind wegen des Abstraktionsstandpunktes der Gerechtigkeit in negativer Form mửglich, wenn sie auf die Unterlassung von Unrecht zielen.800 Handlungsregeln, die sich negativ auf die Aufrechterhaltung von Handlungsmacht des Einzelnen gegenüber anderen beziehen, haben Vorrang, wenn bzw. weil sie die Grund-Eigenstọndigkeit jedes Einzelnen sichern.
Zwecksetzungen, die das Gut des Einzelnen positiv bestimmen, kửnnen keine konkreten
798 Vgl. zu diesem Befund, allerdings mit abweichender Begründung Carl 1997, S. 444: „...an individual’s own nature presents unique possibilities for excellence that cannot be determined in general. What is virtuous in each case must be assessed by the individual, or by a particular society, according to the varying conditions and circumstances of human existence.“
799 Vgl. z. B. für die Tapferkeit STh II-II q. 140 a. 1 ad 2: „...lex suis praeceptis habet communem instructionem.
Ea vero quae sunt agenda in periculis non possunt ad aliquid commune reduci, sicut ea quae sunt vitanda. Et ideo praecepta fortitudinis magis dantur negative quam affirmative.“
800 Die Gerechtigkeit im allgemeinen Sinne umfasst diesbezüglich auch die anderen moralischen Tugenden, denn sofern diese ọuòere Handlungen vorschreiben, nehmen sie nicht nur die fỹr die Gerechtigkeit typische Gesetzesform an, sondern haben wegen ihrer Äuòerlichkeit Bezug auf das bonum commune. Vgl. z.B. fỹr die Tapferkeit STh II-II q. 140 a. 1.
Handlungsgebote nach sich ziehen, weil sonst der Einzelne in der Bestimmung seines Gutes nicht mehr eigenstọndig ist.
2. Ausblick: Kasuistik oder Zurechnungslehre?
a) Offene Fragen
Zeigt nun aber die Regelhaftigkeit der per se schlechten Handlungen, dass die Morallehre oder zumindest das Feld der Gerechtigkeit durch eine ausgeklügelte Kasuistik erschlossen werden kann?801 Die „Ausnahmslosigkeit“ der durch die per se schlechten Handlungen ausgesprochenen Handlungsverbote haben dazu geführt, dass sie einerseits als Vorlage bzw.
Argumentationsgrundlage für tendenziell restriktive moralische Vorschriften auf der Grundlage konservativer Wertvorstellungen dienen802, andererseits aber auch dazu, dass für verschiedenste Fallkonstellationen „Ausnahmen“ diskutiert werden803, um durch subtile Unterscheidungen doch noch das Verbot „umgehen“ zu kửnnen.804 So ist der Eindruck einer schlimmstenfalls willkürlichen, bestenfalls aber verwirrenden und jedenfalls mechanischen Kasuistik entstanden. Dieser Vorwurf mag auf einige Debatten zutreffen, in denen man sich auf Thomas beruft. Dass er Thomas selbst treffen kửnnte, ist zu bezweifeln.
Dass im Einzelfall ein Verhalten doch keine per se schlechte Handlung darstellt, obwohl die Handlungsbeschreibung zunọchst darauf hindeutet, dafỹr gibt es bei Thomas durchaus Hinweise: Er nennt Beispiele, etwa den „Diebstahl” aus Not, in denen ein eigentlich als schlecht zu qualifizierendes Handlungsobjekt im Einzelfall doch keine schlechte Einzelhandlung darstellt.805 Thomas statuiert hierbei indirekt eine Solidaritọtspflicht als Teil der kommutativen Gerechtigkeit. Denn wenn dringende und offenkundige Not herrscht, darf der Notleidende einen Unbeteiligten in Anspruch nehmen und auf dessen abstrakt vom
801 Zum Kasuistikvorwurf vgl. Pieper 1940, S. 49-63, allerdings nur im Ergebnis wie hier.
802 Ein Positivbeispiel für diese Interpretationslinie ist Finnis 1991, der sich freilich nicht mit einem „billigen“
Verweis auf absolute Verbote begnügt, sondern deren theoretische Voraussetzungen reflektiert und ausführlich argumentativ untermauert. Siehe auch Finnis / Grisez / Boyle 2001 (mit vielen Fallbeispielen).
803 Einzelne Fallbeipiele für Ausnahmen diskutiert auch Boler 1999, dem es aber wohltuenderweise insgesamt mehr um Status bzw. Wandelbarkeit des natỹrlichen Gesetzes geht, als um die Diskussion von Einzelfọllen.
804 Ihren Ursprung, zumindest aber ihren Anlass haben diese Diskussionen in der moraltheologischen Debatte, deren hitzigen Verlauf Milhaven 1975, S. 154 beschreibt: „Arguments are often heated and ad hominem. Those who condemn, let us say, all divorce and abortion are called inhuman and insecure legalists. Those who recommend some freedom on the two points are accused of license and murder, and their principles assessed as moral anarchy.“
805 STh II-II q. 66 a. 7.
Recht geschỹtztes Eigentum zugreifen. Auch fỹr das Tửtungsverbot gilt, dass Selbstverteidigungshandlungen in bestimmten Fọllen aus dem Bereich der Tửtungshandlungen auszunehmen sind,806 also in der konkreten Situation das „absolute”
Verbot scheinbar noch einmal auf seine Anwendbarkeit befragt werden muss. Weitere Beispiele sind das Zurückgeben von hinterlegtem Gut, das – obschon unbedingt geboten – zur Abwendung von Gefahren unterbleiben darf807 oder das Lügenverbot, auf dessen Ausnahmslosigkeit Thomas zwar beharrt, durch die Einschrọnkung, dass es zulọssig sei, die Wahrheit in kluger Weise durch Umgehung zu verbergen, jedoch sogleich wieder in Zweifel zieht808.
Zu differenzieren ist hierbei meines Erachtens zwischen solchen Konstellationen, die bei Thomas „Ausnahmen“ von menschlichem809 oder gửttlichem Gesetz810 darstellen (so etwa STh I-II q. 96 a. 6, STh I-II q. 94 a. 5 ad 2, STh I-II q. 100 a. 8 ad 3), von den Beispielen, die ausschlieòlich auf das natỹrliche Gesetz bezogen sind. Wie ausgefỹhrt kửnnen die per se schlechten Handlungen zwar als konkrete Vorschriften des natürlichen Gesetzes gelesen werden, so dass von vornherein nur „Ausnahmen“ vom natürlichen Gesetz zu betrachten sind. Doch die per se schlechten Handlungen zọhlen des weiteren nur insofern zum natürlichen Gesetz, als hier jeder Akteur qua Akteur als Gesetzgeber fungiert und seine konkreten – tugendgeleiteten! – Urteile damit am Gesetzescharakter des natürlichen Gesetzes partizipieren. Das natürliche Gesetz als Theorie praktischer Vernünftigkeit macht bis auf wenige Ausnahmen keine konkreten Vorschriften universeller Art, sondern handelt von deren Zustandekommen – so dass auch die Diskussion um seine Wandelbarkeit eine ganz andere Fragestellung betrifft, nọmlich die Besonderheit praktischer Vernunfttọtigkeit und ihres spezifischen Gegenstandes, als bei den Ausnahmen von per se schlechten
806 STh II-II q. 64 a. 7.
807 STh II-II q. 120 a. 1: „Sicut lex instituit quod deposita reddantur, quia hoc ut in pluribus iustum est: contingit tamen aliquando esse novicum, puta si furiosus deposuit gladium et eum reposcat dum est in furia, vel si aliquis reposcat depositum ad patriae impugnationem. In his ergo et similibus casibus malum esset sequi legem positam“. Das Beispiel fỹhrt Thomas an mehreren Stellen an, siehe auch STh II-II q. 57 a. 2 ad 1, ọhnlich auch STh I-II q. 62 a. 5 ad 1. Zum depositum-Beispiel siehe z.B. Boler 1999, S. 182 ff.; González 1999.
808 STh II-II q. 110 a. 3 ad 4: „Et ideo non est licitum mendacium dicere ad hoc quod aliquis alium a quocumque periculo liberet. Licet tamen veritatem occultare prudenter sub aliqua dissimulatione“.
809 Dass im Verhọltnis zum menschlichen Gesetz nicht Wortlaut, sondern Sinn des Gesetzes Vorrang hat, legt Thomas in der quaestio zur Billigkeit dar, STh II-II q. 120. Hierzu González 1999, S. 235 ff.
810 Speziell zu mửglichen Dispensen von lex divina siehe etwa Milhaven 1975, Dedek 1983, Dedek 1979 (jeweils im Ergebnis gegen die Existenz ausnahmsloser konkreter Vorschriften) oder Lee 1981 (im Ergebnis für
„absolute Verbote“). Diese Ergebnisse auf das natürliche Gesetz zu übertragen, halte ich für einen Kurzschluss.
Handlungen zur Debatte stehen.811 Der Bereich, wo das natürliche Gesetz doch konkrete Vorschriften universeller Art enthọlt, also die Formulierung von per se schlechten Handlungen zulọsst, ist bei bestimmten Grundbedingungen menschlichen Zusammenlebens im Rahmen der iustitia commutativa. Diese Grundlagen der per se schlechten Handlungen dürfen bei der Betrachtung von Fallbeispielen des Thomas und der Frage, ob sie als
„Ausnahmen“ von per se schlechten Handlungen gemeint sind, nicht aus dem Blick geraten.812
Im Folgenden analysiere ich zwei dieser „Ausnahmen“, mit dem Ziel zu zeigen, wie die Ergebnisse meiner Untersuchung zu den per se schlechten Handlungen im konkreten Fall anzuwenden sind, und welches darüberhinaus die Fragestellungen sind, zu denen weitere Untersuchungen zu den per se schlechten Handlungen sinnvoll wọren.
b) Beispiel 1: Das Diebstahls- und Raubverbot: „Omne furtum est peccatum”
Die erste hier zu untersuchende „Ausnahme” nennt Thomas bei der Behandlung des Diebstahles und des Raubes als Verstửòe gegen die kommutative Gerechtigkeit. Sowohl Diebstahl als auch Raub sind eigenstọndige Sỹnden813 und damit eigenstọndige Handlungsarten, kửnnen also Objekt einer Handlung sein.
Charakterisiert wird der Diebstahl als heimliche Aneignung einer fremden Sache.814 Die Aneignung von etwas Fremdem fọllt offensichtlich in den Gegenstandsbereich der Gerechtigkeit, denn diese stellt die Ordnung zwischen den Einzelnen her, so dass jedem das Seine zugeteilt wird. Wer also sich Fremdes aneignet und so einen anderen schọdigt, verstửòt direkt gegen diese Ordnung. Deutlich wird an diesem Merkmal auch, dass es beim
811 Oftmal werden mửgliche „Ausnahmen“ von „absoluten“ Verboten jedoch anhand der ĩberlegung untersucht, aus welcher Hierarchiestufe der Vorschriften des natürlichen Gesetzes sie anzusiedeln sind, siehe z.B. Flannery 2001, S. 79-83, Boler 1999, S. 186 f. Die Gegenargumentation wurde oben im dritten Teil, II. 2. c) bb) (b) dargelegt.
812 Zu wenig beachtet wird dieser Befund meiner Ansicht nach von Autoren wie Finnis, Grisez und Boyle, die bei der Anwendung „absoluter“ Verbote besonders darauf abstellen, dass die Frage nach der Handlungsart in moralischer Perspektive beantwortet werden müsse; moralisch sei aber die Akteursperspektive, nicht die eines neutralen Beobachters, vgl. Finnis / Grisez / Boyle 2001, S. 12: „In morally evaluating human actions, one must identify the action to be evaluated from that perspective [i.e., the perspective of the acting person or body]
rather than from the perspective of an observer“, siehe auch S. 29 „What counts for moral analysis is not what may or may not be included in various descriptions that might be given by observers, or even by acting persons reflecting on what they have done, but what is or is not included within a proposal developed in deliberation for possible adoption by choice.“ Sie übergehen dabei, dass im Bereich der Tugend der Gerechtigkeit die Akteursperspektive eine spezifische Erweiterung erfọhrt, indem sie die Perspektive des anderen einbezieht und dadurch notwendigerweise „verobjektiviert“ wird.
813 STh II-II q. 66 a. 4.
814 STh II-II q. 66 a. 3.
Diebstahl nicht darum geht, dass ein anderer durch eine Tọuschung dazu gebracht wird, sich in einer freiwilligen Tauschhandlung selbst zu schọdigen, wie es etwa fỹr den Betrug typisch wọre. Vielmehr wird er geschọdigt, ihm wird von einem anderen eine Sache weggenommen, die sich dieser andere aneignet. Durch das Merkmal „Sache” wird klargestellt, dass es nicht um eine Sünde gegen die Person eines anderen geht. Die Bewandtnis der Sünde ist eine ganz andere als beim Diebstahl, wenn etwa eine Gliedmaòe „weggenommen” wird. Die besondere Art der Sünde wird nach Thomas des Weiteren durch das Merkmal „heimlich”
begrỹndet: Der Ermửglichungsgrund fỹr die Schọdigung, die einem anderen durch die Aneignung von dessen Sache angetan wird, ist beim Diebstahl gerade die Heimlichkeit. Weil der andere nicht weiò, dass ihm seine Sache weggenommen wird, kann es ỹberhaupt erst zur Schọdigung kommen. Durch das Merkmal „heimlich“ wird also ausgedrỹckt, dass jemandem gegen seinen Willen oder zumindest ohne seinen Willen etwas weggenommen wird. Auòerdem scheidet Gewaltanwendung als Ermửglichungsgrund der Wegnahme aus, der Diebstahl wird also vom Raub abgegrenzt. Auch der Raub ist Aneignung einer fremden Sache gegen oder ohne den Willen des Besitzers, aber Ermửglichungsgrund ist hier die Gewaltanwendung.815 Als Diebstahl wird auch bezeichnet, was man heute als Unterschlagung kennzeichnen wỹrde, nọmlich das ungerechte Behalten.816 Denn auch hier sind die artbildenden Merkmale des Diebstahls enthalten: Ein anderer wird durch das Behalten der fremden Sache geschọdigt (er schọdigt sich nicht selbst), die Schọdigung bezieht sich auf eine Sache und die Aneignung erfolgt heimlich, also ohne bzw. gegen den Willen des Geschọdigten, Ermửglichungsgrund ist dessen Nichtwissen.
Der Diebstahl wird als eine Handlungsart qualifiziert, die per se schlecht ist. Thomas schreibt, es sei offensichtlich, dass jeder Diebstahl Sünde ist.817 Wie bereits dargelegt, erhalten von den Handlungsarten, die als besondere Verstửòe gegen die Tugend der Gerechtigkeit konstituiert werden, einige diese besondere Kennzeichnung als per se schlechte Handlungen, Handlungen also, die ausnahmslos unter allen Umstọnden, immer und ỹberall schlecht sind.
In dem Artikel, der die zusọtzliche Qualifizierung der Handlungsart „Diebstahl” als per se schlechte Handlung enthọlt (STh II-II q. 66 a. 5), versucht Thomas folglich, in den Einwọnden auch die (artbildenden) Merkmale einer nur diebstahlsọhnlichen Handlung zu benennen, die die Bewandtnis des Diebstahls beseitigen.
815 STh II-II q. 66 a. 4.
816 STh II-II q. 66 a. 3 ad 2.
817 STh II-II q. 66 a. 5: „Unde manifestum est quod omne furtum est peccatum.“