©Naturhistorisches Museum Wien, download unter www.biologiezentrum.at DAS TYRRHENISPROBLEM Zoogeographische Untersuchungen unter besonderer Berücksichtigung der Koleopteren Von Dr KARL HOLDHAUS (Wien) (Mit einer Textfigur.) Die Inseln Korsika und Sardinien mit ihrer überaus eigenartigen Lebewelt werden von den Biogeographen und Geologen als die Eeste eines einstmals viel grưßerenFestlandes aufgeft, das nunmehr unter die Flutỗn des Tyrrhenischen Meeres versunken ist Man nannte dieses Festland „Tyrrhenis" Zoogeographische Tatsachen nưtigen zu der Annahme, d auf diesem Tyrrhenisland einstmals nach Nordosten hin eine Überwanderung zahlreicher korsardinischer Faunenelemente nach dem mittleren Apennin erfolgte Die Inseln des Toskanischen Archipels dürfen als erhalten gebliebene Trümmer dieser alten Landbrücke betrachtet werden Nach Südosten gewendet, gewahren wir in den Gebirgen des nördlichen Sizilien eine Mehrzahl von Tierformen, welche mit Arten aus Korsardinien in engster Verwandtschaft stehen und den Bestand eines ehemaligen Wanderungsweges zwischen beiden Gebieten erweisen Die nordsizilischen Gebirge finden ihre tektonische Fortsetzung in den Atlasketten von Tunis und Algerien, deren, Fauna gleichfalls mancherlei tyrrhenische Spuren erkennen läßt Erst in Marokko und Spanien geht der tyrrhenische Einfluß fast zur Gänze verloren Die Inseln Galita und Galitone bezeichnen den Weg der ehemaligen Landbrücke, welche sich von Sardinien nach Tunis und weiterhin nach Sizilien erstreckte Die das westliche Mittelmeer umrahmenden großen Kettengebirge, Alpen, Apennin, nordsizilische Gebirge, Atlasgebirge, auch die betische Cordillère und die Pyrenäen, sind jugendlichen Alters Das gefaltete Alttertiär nimmt breiten Anteil am Aufbau dieser Gebirge, und selbst jungtertiäre Sedimente sind an vielen Orten gefaltet und stellenweise hoch emporgehoben Im Vergleich mit diesen jungen Gebirgsketten besitzen die Gebirge von Korsika und Sardinien ein viel höheres Alter Korsika und Sardinien gehören zum Gebirgssystem der Altaiden, dessen Faltung bereits im Paläozoikum erfolgte Jura und Kreide liegen im zentralen Sardinien flach und bilden Tafelberge auf der gefalteten Unterlage altpaläozoischer Sedimente Die Insel Korsika besteht großenteils aus alten Gesteinen, nur der Nordosten hat gefaltetes Eozän Diesen Nordostflügel von Korsika mit junger Faltung betrachtet E Sueß als die tektonische Fortsetzung der Alpen Das Bild, das sich uns in diesem Teile des westlichen Mttelmeeres bietet, ist also folgendes: Wir sehen in den Inseln Korsika und Sardinien die Reste eines uralten gebirgigen Festlandes Umkränzt wird diese alte Masse von dem Bogen der jungen KettenAnnalen des Naturhistorischen Museums in Wien, Bd 37, 1924 \ ©Naturhistorisches Museum Wien, download unter www.biologiezentrum.at Dr Karl Holdhaus gebirge — Südwestalpen, Apennin, Sizilien, Atlasgebirge, — deren Fauna so viel Anklänge an jene der tyrrhenischen Masse zeigt, daß wir in geologischer Vergangenheit eine ausgiebige Transgression tyrrhenischer Faunenelemente auf diese jungen Kettengebirge annehmen müssen Das alte Tyrrhenisland ist ein Verbreitungszentrum, von welchem eine sehr eigenartige und formenreiche Fauna nach Italien, Sizilien und Nordwestafrika hin ausstrahlt Die Kenntnis dieser merkwürdigen geologischen und zoogeographischen Beziehungen Meß in mir den Wunsch entstehen, durch eigene Untersuchungen zur Lösung der hier schlummernden Probleme beizutragen Ich wählte zunächst die Aufgabe der koleopterologischen Erforschung der Insel Elba, da die Koleopterenfauna dieser Insel bisher ganz unbekannt war und die günstige Lage der Insel zwischen Korsika und dem toskanischen Festland wertvolle Aufschlüsse zoogeographischer Natur erwarten ließ Meine Eeisen nach Elba erfolgten in den Jahren 1904 und 1906 Spätere Sammelreisen führten mich nach Sizilien und in verschiedene Teile des italienischen Festlandes, insbesondere auch auf den Monte Argentario und in das Gebiet der toskanischen Maremmen Die ausgezeichneten Aufsammlungen von Herrn G P a g a n e t t i - H u m m l e r am Aspromonte, in den südlichen Abruzzen und in Toskana, in gleicher Weise das Erscheinen des meisterhaften „Catalogue critique des Coléoptères de la Corse" von J Sainte-Claire De ville, sowie mehrerer grundlegender Arbeiten über Koleopteren aus Sardinien und dem Apennin von D o d e r o , Luigioni und Raffray ermöglichten es mir, meine Untersuchungen über die Koleopterengeographie dieser Gebiete auf einer viel breiteren Basis fortzufüliren, als ich ursprünglich hoffen durfte Als Ergebnis aller dieser im Verlaufe einer langen Reihe von Jahren zusammengetragenen Beobachtungen vermag ich die vorliegende Arbeit1) zu unterbreiten Diese Arbeit bringt daher zunächst systematische Untersuchungen über eine Reihe zoogeographisch besonders wichtiger Koleopterengattungen des tyrrhenischen Faunengebietes, ferner kritische Zusammenstellungen über die geographische Verbreitung zahlreicher Koleopteren der tyrrhenischen Inseln und der umliegenden Teile des Festlandes, weiters die nötigen faunistischen Daten über die Koleopteren der Insel Elba, des Monte Argentario und des Vorgebirges von Piombino und schließlich einen allgemeinen Abschnitt mit Untersuchungen über das Ganze des Tyrrhenisproblems unter besonderer Berücksichtigung der Koleopteren Die Ordnung der Koleopteren wurde in den Vordergrund gestellt, da diese Tiergruppe infolge des Vorkommens sehr zahlreicher, schwer beweglicher, ungeflügelter und zum Teil auch blinder, im Erdboden lebender Arten für die Lưsung zoogeographischer Detailfragen in besonderem Me geeignet ist Von anderen Tiergruppen wurden die Säugetiere, Reptilien, Amphibien, Mollusken, Lepidopteren und Oligochaeten in die Darstellung einbezogen Die hiebei gewonnenen Ergebnisse decken sich im wesentlichen mit den aus der Verbreitung der Koleopteren abgeleiteten Anschauungen und mögen zur tieferen Begründung derselben von Nutzen sein Auch geologische, paläontologische und pflanzengeographische Daten, welche ich zusammenzutragen bemüht war, stehen mit den zoogeographischen Ergebnissen in guter Übereinstimmung Es ist mir eine angenehme Pflicht, allen jenen Herren, welche mir anläßlich der Durchführung der vorliegenden Untersuchungen ihre freundliche Hilfe zuteil werden x ) Um den Umfang dieser Arbeit einzuschränken, wurden mehrere Voruntersuchungen an anderer Stelle publiziert Vgl K Holdhaus, Elenco dei Coleotteri dell'isola d'Elba, studii sul problema della Tirrhenide, Mem Soc Ent Ital., II, 1923 ; Monographie du genre Reicheia Saulcy, L'Abeille 1924 ©Naturhistorisches Museum Wien, download unter www.biologiezentrum.at Das Tyrrhenisproblem ließen, auch an dieser Stelle den geziemenden Dank zu sagen Besonderen Dank schulde ich den Herren Dr Karl Graf Attems in Wien, welcher die von mir auf Elba gesammelten Myriapoden einer sorgfältigen Bearbeitung unterzog, Direktor Jean SainteClaire De ville in Saarbrücken, welcher mir viele wichtige Auskünfte über tyrrhenische Koleopteren erteilte und mich im Verlaufe einer anregenden Korrespondenz mit seinen auf reicher Erfahrung beruhenden Anschauungen über verschiedene Teilfragen des Tyrrhenisproblems bekannt machte, Agostino Dodero fu Giustino in Genova, welcher mir wertvolles Koleopterenmaterial zur Bearbeitung anvertraute und mir zahlreiche Mitteilungen über die geographische Verbreitung verschiedener Koleopterenarten zukommen ließ, Dr Baron G J de Fejérváry in Budapest, welcher mich beim Studium der tyrrhenischen Amphibien- und Reptilienfauna mit freundlichen Auskünften unterstützte, Gustav Paganetti-Hummler in Vöslau, welcher mir zahlreiche Auskünfte erteilte und mir stets in entgegenkommendster Weise ein genaues Studium seiner reichen italienischen Koleopterenausbeuten ermöglichte, Ferdinando Solari in Genova, welchem ich für mehrfache Mitteilungen über korsardinische und italienische Curculioniden zu Dank verpflichtet bin, endlich den Herren Hofrat Dr Eudolf Sturany in Wien und Direktor Dr A Wagner in Warschau, welche die von mir auf Elba und am toskanischen Festland gesammelten Mollusken einer sorgfältigen Bestimmung unterzogen Viele andere Herren mögen für einzelne Hinweise oder für freundliche Überlassung von Untersuchungsmaterial den aufrichtigsten Dank entgegennehmen Durch den Krieg und alle seine unerfreulichen Folgen wurde die Fertigstellung der vorliegenden Arbeit in ernstlicher Weise gestört und verzögert Ich war bestrebt, auch die nach dem Jahre 1914 erschienene Literatur des Auslandes in möglichster Vollständigkeit zu berücksichtigen Sollte ich in dieser Hinsicht irgendwelche Arbeiten übersehen haben, so mögen die derzeit bestehende Unerreichbarkeit mancher Zeitschriften und die mangelhafte literarische Berichterstattung als genügende Entschuldigung gelten I Systematische Untersuchungen über tyrrhenische Koleopteren Die koleopterologische Speziessystematik ist leider in vielen Gattungen noch so mangelhaft und provisorisch, daß sie in keiner Weise als verläßliche Basis für zoogeographische Untersuchungen verwendet werden kann Die wesentliche Schwierigkeit besteht darin, daß von den älteren Autoren, auch noch von Bedel, Gangibauer, R e i t t e r u a., fast ausschließlich die äußerlich sichtbaren Merkmale der Arten zur Speziesunterscheidung herangezogen wurden Nun erweist es sich aber, daß in einer überaus großen Zahl von Gattungen durch das alleinige Studium der äußeren Merkmale eine fehlerfreie Speziessystematik nicht gewonnen werden kann, da die für die Artunterscheidung wesentlichen Merkmale hier vielfach im anatomischen Bau des männlichen und weiblichen Kopulationsapparates gelegen sind Die Nichtbeachtung dieser allerdings mitunter etwas schwierig zu untersuchenden Merkmale führt in zahlreichen Fällen zu völlig falschen systematischen Anschauungen So wurde auf Grund der äußerlich sichtbaren Merkmale die in Korsika lebende Reicheia palustris Saulcy von zahlreichen Autoren mit der in den Pyrenäen einheimischen Reicheia lucifuga Saulcy als identisch betrachtet Das Vorkommen einer korsischen mikrophthalmen und ungeflügelten Koleopterenart in den Pyrenäen wäre naturgemäß in zoogeographischer Hinsicht sehr be1* ©Naturhistorisches Museum Wien, download unter www.biologiezentrum.at Dr Karl Holdhaus merkenswert, und tatsächlich lassen sich zwischen beiden Formen keine äußerlich erkennbaren Unterschiede auffinden Die Untersuchung des Kopulationsapparates führt aber zu dem Ergebnis, daß zwischen beiden Arten infolge tiefgreifender anatomischer Unterschiede keinerlei nähere Verwandtschaft besteht, daß hingegen die korsische Reicheia mit einer in Sizilien und Süditalien lebenden Form speziesidentisch ist Eine Speziessystematik, die sich nur auf äußere Merkmale gründet, ist daher bei zoogeographischen Untersuchungen nur mit grưßter Eeserve zu verwenden1) Um eine gesicherte Grundlage für die zoogeographische Beurteilung zu gewinnen, war ich genötigt, in verschiedenen Gattungen umfangreichere systematische Untersuchungen durchzuführen, deren Ergebnisse zum Teil bereits an anderen Stellen publiziert wurden2) Der vorliegende Abschnitt bringt systematische Erörterungen über terrikole Staphyliniden, Pselaphiden, Scydmaeniden und Silphiden des tyrrhenischen Faunengebietes In manchen Gattungen (z B Anilins, Cylindropsis, Pachypus, Torneuma), deren genaues Studium zweifellos auch in zoogeographischer Hinsicht sehr bemerkenswerte Resultate ergäbe, war es mir leider aus Mangel an Material nicht möglich, die nötigen anatomischen Untersuchungen vorzunehmen Staphylinidae Leptusa apennina nov spec Mit der in Korsika und Sardinien endemischen L scàbripennis Mulsant et Rey, Opu c ent XVI, 1875, pag 185, äußerst nahe verwandt und in den meisten Merkmalen übereinstimmend, aber durch etwas abweichende Sexualauszeichnungen am Abdomen des $ vermutlich spezifisch verschieden Beim $ trägt das Abdominaltergit in geringer Entfernung vor dem Hinterrande ein kleines, erhabenes, unter starker Lupenvergrưßerung deutlich wahrnehmbares médianes Kưrnchen, das sich bei manchen Exemplaren nach vorn in einen kurzen, niedrigen Kiel verlängert Das Abdominaltergit trägt etwa im hinteren Drittel seiner Länge ein äerst kleines, unter sehr starker Lupenvergrưßerung eben noch wahrnehmbares, erhabenes Körnchen, der Hinterrand des Abdominaltergites ist stumpf verrundet, in der Mitte mit einem wenig breiten, äußerst flachen, mitunter undeutlichem Ausschnitt und im Bereiche dieses Ausschnittes mit einigen äerst kleinen, unter stärkster Lupenvergrưßerung eben noch erkennbaren Kerbzähnchen Beim $ von L scàbripennis Muís Rey trägt das Abdominaltergit einen viel kräftigeren, längeren medianen Längskiel, das Abdominaltergit zeigt einen langgestreckten, unter starker Lupenvergrưßerung sehr deutlich wahrnehmbaren, analwärts in einiger Entfernung vor dem Hinterrand erlöschenden, schmalen, medianen Längskiel, der Hinterrand des Abdominaltergites ist in großer Breite der Quere nach abgestutzt und mit einer grưßeren Zahl von kleinen Kerbzähnchen versehen Am $ Kopulationsapparat sind die Parameren bei beiden Arten von sehr ähnlicher Gestalt, hingegen scheinen in der Bewaffnung des Ductus ejaculatorius Differenzen zu bestehen, *) Vgl hierüber auch H o l d h a u s , Monographie der Koleopterengattung Microlestes (Denkschrift Akad Wiss Wien, mathem.-naturw Klasse, LXXXVIII, 1912, pag 478—540); J e a n n e l , Biospeologica, Silphidae Catopinae, Archiv Zool exp et gén LXI, 1922, pag 3—5, und derselbe, La variation des pièces copulatrices chez les Coléoptères, C R Acad Sci Paris, tome 174 (1922), pag 324 ) Vgl auch Holdhaus, Nuovi Coleotteri della Toscana (Riv Col Ital., Ili, 1905, pag 29-39) ©Naturhistorisches Museum Wien, download unter www.biologiezentrum.at Das Tyrrhenisproblëm die ich infolge Mangels an ausreichendem Untersuchungsmaterial leider nicht in befriedigender Weise studieren konnte Long.: 1*7—2 mm Vorkommen: Im Apennin von Toskana Mir liegen mehrere